Datum/Zeit
Datum - 11.11.2024
19:00 - 20:30
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Veranstaltungsort
Charlotte-Dessecker-Bücherei
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Jaroslav Rudiš liest aus „Winterbergs letzte Reise“, mit dem Special: „Weihnachten in Prag“
Eintritt: 7 EUR
Von einem irrwitzigen Trip zweier Slow Traveller mit der Eisenbahn durch die (nicht eben friedliche) Geschichte Mitteleuropas erzählt „Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudiš, ein Roman, der sich als Abgesang auf „die Welt von gestern“ ebenso wie als Utopie eines „alles könnte anders sein“ lesen lässt. Der 99-jährige Wenzel Winterberg, ein Sudetendeutscher, der, wie er nicht müde wird zu betonen, „so alt ist, wie die tschechische Republik und die erste Feuerhalle Österreichs“ in seiner Geburtsstadt Reichenberg (heute Liberec), folgt darin den Spuren der Vergangenheit, einem ganzen Beziehungsnetz von politischen und privaten Katastrophen. Eher unfreiwillig begleitet wird der Alte von seinem Krankenpfleger, dem Tschechen Jan Kraus, der, Zufall oder Schicksal, aus eben diesem Ort Winterberg (heute: Vimperk) im Böhmerwald stammt. Nach seiner dramatischen Flucht aus der sozialistischen Tschechoslowakei will Kraus eigentlich nie mehr zurück. Doch jetzt sind die beiden Desperados unterwegs von Berlin über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest nach Sarajevo: Schauplatz des Attentats auf den österreichischen Thronfolger – und scheinbar auch des Mordes an der Jüdin Lena Morgenstern, Winterbergs großer Liebe. In einem nicht enden wollenden, wilden Erinnerungsmonolog des Alten reihen sich Geschichte und Geschichten(n) von bedeutenden und weniger bedeutenden Personen, Orten und Ereignissen aneinander. Kann das gut gehen, wenn diese verlorene Welt, die „noch ganz, wenn auch nicht heil war“ auf das Heute trifft, wenn die beiden Reisenden „die wunderschöne Landschaft der Schlachtfelder, Friedhöfe und Ruinen“ besuchen: Wer hätte es gedacht, dass Winterberg in Königgrätz einen seltsamen Tanz um die verschneiten Gräbern der Gefallenen aufführen wird, in der altehrwürdigen Kaisergruft in Wien geräuschvoll auf die leeren Särge trommelt oder im Reichenberger Krematorium als vermeintlicher Verwandter an der Bestattung eines Fremden teilnimmt. Da macht es schon mehr Spaß mit der Straßenbahn an prächtigen Ringstraßen, Denkmälern, Rathäusern und Plätzen, entlang zu zuckeln oder sich die Schätze der böhmischen Küche, Tafelspitz, Gulasch, Schweinbraten und Knödel, das süffige Bier und die köstlichen Mehlspeisen schmecken zu lassen.
„Winterbergs letzte Reise“, der erste Roman, den der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš („Grandhotel“, „Die Stille in Prag“) auf Deutsch verfasst hatte, war im Frühjahr 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – und hätte den Preis verdient. Einfach meisterhaft gelingt ihm darin die Einheit von Inhalt und Form, mit penetranten Tiraden à la Thomas Bernhard von der Wiederkehr des Immergleichen zu erzählen. Selten ist so humorvoll und zugleich zutiefst melancholisch über die Schrecken des Krieges, über Schuld, Heimatverlust und andere Traumata geschrieben worden, Folgen eines tödlichen Nationalismus, der für Sudentendeutsche und Tschechen und alle anderen „Weltbürger“ gleichermaßen Unglück bringt.
Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Romancier, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. 2012/13 hatte er die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Für sein Werk wurde er mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis ausgezeichnet. Seine „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“(2012), die mittlerweile in der 8. Auflage vorliegt, erhielt den ITB Berlin Buchaward und gilt jetzt schon als Klassiker der Reiseliteratur. 2021 wurde Rudiš als „einer der engagiertesten Brückenbauer zwischen Deutschland und Tschechien“ mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt.