Der neue Roman von Jo Lendle
Von Stefanie Bürgers
„Fliegen lernen heißt sterben lernen. Früher oder später braucht man es ohnehin. Wenn Fliegen möglich ist, ist alles möglich.“
Dies notiert die 24-jährige Flugpionierin Amelia Earhart nach der ersten Flug-stunde 1921. Am 2. Juli 1937 bricht sie zur vorletzten Etappe der ersten Weltumrundung auf. Ihr Ziel, eine winzige Insel mitten im Pazifik, erreicht sie nicht. Aber sie hat Maßstäbe gesetzt. Freiheitsliebend, kompromisslos und mutig verweigert sie sich schon früh den Konventionen des traditionellen Frauenbilds, rast mit dem Schlitten Kopf voraus steilste Hänge hinab, geht mit der Schrotflinte bei ihrer Großmutter am Missouri allein auf die Jagd und beobachtet Zugvögel. Die haben nicht nur vier Himmelsrichtungen, sondern unendlich viele, meint ihr Vater.
Später trägt sie Hosen und engagiert sich vehement für Frauenrechte. Im Unterstützungskurs für Einwandererfrauen lehrt sie, dass Frauen eine Ausbildung absolvieren und nicht am Herd enden sollten. Die erste Atlantiküberquerung einer Frau als Passagierin im Nonstopflug über den Atlantik absolviert sie selbstredend in leitender Funktion als verantwortliche Kapitänin und weiter setzt sie durch, dass Frauen gleichberechtigt an Flugwettbewerben teilnehmen können. Genauso nüchtern und klar regelt sie auch ihre Beziehungen: „Wenn einer von uns jemand anderen interessanter findet, dann sagen wir’s“, so die Devise. Überraschend ist ihre andere Seite: Sie schreibt zartfühlende Lyrik.
Der Autor Jo Lendle, Verleger des Hanser Verlages, ist bei der Recherche zum Buch auf den „sehr geordneten Nachlass“ von Amelia Earhart gestoßen. „Ich wusste nicht, wie toll sie ist. …. Ich bin auf Vieles gestoßen, wo ich dachte: Mit der möchte ich jetzt die nächsten Jahre verbringen.“, sagte er in einem NDR-Interview im Sommer dieses Jahres. Eine Vielzahl von Notizzetteln und Tagebüchern waren zugänglich, und Lendle ist kurzerhand als Ich-Erzähler in Amelias Haut geschlüpft. Die Fakten seien korrekt, aber „es ist ein Stück Fiktion“, so Lendle im Interview. Dadurch ist ein Roman entstanden, keine Biografie. Und vermutlich hat Amelias enge Freundschaft mit der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt in der Realität nicht im Bett geendet. Aber man hätte es ihr zutrauen können.
In witzigen Dialogen lässt Lendle die schlagfertige Amelia glänzen. Es entsteht ein stimmiges Bild der eigenwilligen Frau. Ein Sponsor will sie für die erste Atlantiküberquerung gewinnen: „Sie müssen nichts tun, als ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn Sie heil ankommen, wird es nicht mehr dasselbe sein“. Darauf Amelia: „Andernfalls auch nicht“.
Jo Lendle:
Die Himmelsrichtungen
Roman, 245 Seiten, Hardcover
Penguin Verlag, München 2024
24 Euro