Von Wolfram Hirche

Mit Cordula zu Karl gehen, an einem dieser gottverlassenen Gedenktage, da konnte ich von vornherein das Kotzen kriegen, von diesem Allerseelenallerheiligenheulen.

Gräbertage, hörte ich meine Mutter jahrzehntelang sagen, sind Seelentage, hier zeigt sich, wer ein wertvoller Mensch ist, und solchen Stuss, für den ich normalerweise jedem anderen eins in den Magen versenkt hätte, aber nicht Mutter, denn sie stand sowieso schon mit einem Bein im Grab, wie ich annahm damals, irrig. Und dann die Erbschaft. Regelmäßig vor dem ersten November begann sie mit diesem Gerede, meistens schon Mitte September fing sie davon an, wenn nicht schon im August.

Dann, wenn es endlich so weit war, stand sie da über den Sandsteingrabdeckel meines Vaters gebeugt und fummelte eine rote Kerze nach der anderen aus ihrem braunen Persianer oder Ozelot und fuchtelte mit Streichhölzern im Wind herum, als wollte sie den halben Friedhof einäschern, und nach dem ungefähr dreißigsten Versuch, eine dieser Kerzen, die sie aus ihrem Nerz holte oder Bisamrattenfellmantel, anzuzünden, und nachdem der Inhalt von drei oder vier abgebrannten Streichholzschachteln unter dem überlebensgroßen Engel lag, den sie dem Vater hatte aufs Grab stellen lassen, und der ihr selbst nachgeformt sein sollte, im Gesicht jedenfalls, lauter schwarze Streichholzstumpen wie ein Miniaturscheiterhaufen, konnten wir endlich Leine ziehen. Sie sagte noch so was wie der Herrgott allein wisse, wie aufopfernd sie zeitlebens das Grab gepflegt habe, und dass sie einen Sohn habe, der ihres nie pflegen würde, ja, ich würde es völlig verwahrlosen lassen, das sei sowieso klar, wenn sie mal unter den Blumen läge eines nicht mehr fernen Tages. Deshalb sollte man mich eigentlich enterben. Und ich sagte, stimmt, Mutter, sagte ich, so verschieden sind die Menschen, und sie presste eine Träne in ihr weißes Stofftuch. Das war handgestickt oder -gehäkelt und kam von der Cousine aus der alten DDR, wo sie natürlich damals noch massig Zeit hatten, so was zu handhäkeln. Vor dem 89er-Crash hatte sie uns mit diesen Tüchern eingedeckt, die Cousine, während Mutter paketweise Kaffee rüberschickte, als wollte sie ihre eigene Plantage entsorgen.

Cordula, das wollte ich noch sagen, lag mir inzwischen dermaßen schwer im Arm, als würde mich ein Walross knutschen. Wir waren seit zwei Jahren nicht mehr bei Karl gewesen, seit seiner Beerdigung genau genommen, und verdammt, er musste doch hier draußen irgendwo liegen, Ostfriedhof, alter Freund, Herrgottnochmal! Zumindest Cordula sollte sich erinnern – wer sonst, wenn nicht sie! Während wir irgendwie im Kreis herum latschten und vorbei an diesen Hunderten von abartigen Inschriften liefen und sein Grab suchten, dachte ich an die Basstuba, die bei der Beerdigung meines Vaters ständig in die Melodie hineingefurzt hatte, „Ich hatt’ einen Kameraden“, dieses tiefe As oder was, mit dem sie diesen faschistoiden Kleister zwei Oktaven tiefer ironisch angetupft hatte, sodass ich lachen musste, wie ich fast immer bei Beerdigungen lachen musste, weil es nichts Komischeres gab als diese Erdlegungen und die begossenen Gesichter dabei und die Reden, und dabei wussten es doch alle haarklein, dass das Leben halt nun mal endlich ist. Da gab es nichts zu rütteln.

Aber das alles konnte mich nicht hindern, jetzt mit der guten alten Cordula nach Karl zu suchen und ihr wieder mal zu stecken, wie irre ich ihren Vorbau fand und dass er von Mal zu Mal irrsinniger wurde und sie irgendwann mal platzen würde, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Dafür nagelte sie mir derart eins mit ihrem linken Ellbogen – nein, nicht in die Weichteile, denn so weit unten kam sie nicht an, aber in die Leber, dass Sonny Liston klar auf die Bretter gegangen wäre, und plötzlich sagte sie, während ich mich noch krümmte, da, da ist es. Und da war nichts. Nur ein rechteckiger Fleck, einsachtzig mal sechzig voll von rotbraunem Laub und Vogelschiss. Und, richtig, ein schwarzes Holzkreuz mit Karls Namen darauf und jede Menge Ahornblätter, wie gesagt, oder was die lausige Botanik hier draußen hergab. München Ost, das letzte, wo ich besoffen oder begraben sein wollte, und in dem Moment wusste ich, dass es ihn definitiv erwischt hatte, meinen alten Freund Karl, und dass ich ihn am liebsten sofort ausgebuddelt hätte aus seinem verschissenen Grab und mit nach Hause genommen, und dass es mich so was von krank machte, der Gedanke allein, so was von krank der Gedanke, allein, für immer.