Ich hatte die Einstellung, die Eltern müssten alles tun, um mich zu fördern. War kein Geld da, müssten alle überlegen, wie es zu beschaffen sei. Ich wollte Pianistin werden, eine Skrjabin, eine Rubinstein, eine Argerich, so die Mischung, egal, ob ich die Erste war in der Familie.
Lehrer waren wichtig. Solche, die das Kind leiten und es frei lassen. So stellte ich mir das vor. Und ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn meine Mutter mehr gearbeitet hätte, Geld verdient. Meine Mutter saß hinter der Nähmaschine, die aussah wie ein müdes Pferd. Hätte nicht kochen brauchen. Hätte ich schon gemacht. Mochte eh am liebsten Spiegeleier mit Brot. Hätte ruhig weggehen können, Geld verdienen.
Das Klavierspielen, 50 Euro die Stunde, ich weiß, ein Vermögen. Und wenn ich es nicht schaffte? Na und? Wenn ich nur fünf Sonaten hätte spielen können, und die gut! Keine Deckchen sticken, Jacken stricken und auf den Mann warten, der einen freit.
Gestern bin ich mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren. Eine Grenzüberschreitung. Allein mit dem Fahrrad nach Wien hinüber zu den Donauauen, die lange Strecke durch den Wald an der Bundesstraße entlang. Dann kam ich an den neuen Häusern an der Donauinsel vorbei, die Schuld an dem hektischen Wind in der Innenstadt sein sollten, fuhr am Internationalen Zentrum vorbei, an der Kreuzung, an der früher immer ein Polizist gestanden und im blauen Dunst der Abgase den Verkehr geregelt hatte, weiter Richtung Donauturm. Ich wusste genau, wo sie wohnte. Ich hatte mal wieder gequengelt, wie schön es wäre, einen Lehrer zu haben und ein Klavier zum Üben, und da ist sie geplatzt und hat gesagt:
„Dann geh doch zu deiner Tante, der reichen Russin!“
„Wie soll ich da hinkommen, Russland ist weit!“
„Russland ist eine Fahrradstunde entfernt, sie wohnt im VIC Center in der Donau City, und wenn du dir was merken sollst, dann das: 525.“
Sie streckte mir die linke Hand entgegen und spreizte die Finger, dann klopfte sie sich einmal auf die linke, einmal auf die rechte Brust und streckte mir die rechte Hand entgegen, wieder mit gespreizten Fingern. Das ließ sich merken. 525, das Symbol für eine Pianistenfrau.
Meine Tante ist eine postsowjetische Pianistin. Ich klopfte an der Tür Nummer 525. Eine Frau öffnete, und ich wusste sofort, sie war es. Eine wunderschöne Frau, Typ Mascha Kaléko.
„Alle haben sie bei mir gelernt“, sagte sie. „Seit ich nicht mehr öffentlich auftrete, kommen sie zu mir.“ Sie habe ein Notizbuch, das die Namen all ihrer Kunden aus dem illustren Kreis westdeutscher Wirtschaftsbosse enthält, sagte sie. Sie sagte, Berliner und Brüsseler Minister sind bei ihr Stammkunden, auch französische und Potentaten aus OPEC-Ländern, und ein Blaublütiger aus Sankt Petersburg sei auch dabei. Und ob sie mir denn auch Stunden geben könne, fragte ich sie. „Oh, ja“, sagte sie, „ich habe weit über meine Verhältnisse gelebt und gelte als Blenderin, die es mit der Wahrheit nicht genau nimmt.“ Damit käme sie aber gut zurecht , und ich sollte auf alle Fälle das Blenden lernen, wenn ich Pianistin werden wollte. „Alle Musiker sind Blender“, sagte sie.
„Hast du kein Geld?“ fragte ich sie. „Oh doch!“, und schon zog sie ein Bündel Scheine aus einem Geigenkasten und sagte, wenn ich bei ihr Unterricht nähme, bekäme ich die scheinbar gewaltige Summe von 36.000 Rubel. „Gib sie mir zurück, wenn du so weit bist, in Euro, versteht sich“, sagte sie.
Sie fragte mich, ob ich wüsste, dass im vergangenen Jahrzehnt die Figur der russischen Pianistinnen im symbolischen Kampf um Rußlands Seele immer wieder zum Einsatz gekommen sei. Der Zusammenbruch des Staates, der Niedergang des Patriotismus bevölkerten die russischen Medien und die Kulturindustrie mit Geschichten und Bildern von enthemmten jungen Frauen, die ihr musikalisches Können verkaufen und zahlungskräftigen Kunden ihre Dienste anbieten. Und so schiebe man es auch auf die Perestrojka und die darauf folgenden Versuche einer „ökonomischen Schocktherapie“, dass das ganze Land nur noch von der Logik des Kaufens und Verkaufens beherrscht würde, und alles, was irgendeinen Wert habe, an den Meistbietenden verhökert würde. „Das sei dir eine Lehre“, sagte sie, und „nun werde eine Pianistin und sieh zu, dass du keine Musiksklavin wirst, aber wie ich sehe, bist du tuff, so sagt man? Das schätze ich sehr. Morgen früh, um acht?“
Ich schaute auf die Rubel, die sie immer noch in der Hand hielt und nickte. Davon ein Klavier kaufen! Ich streckte ihr die linke Hand entgegen und spreizte die Finger, klopfte mir zweimal auf die Brust und streckte ihr nochmal die fünf Finger entgegen: 525, das Symbol für eine Pianistenfrau. Dann nahm ich die Rubel und rannte.
Petra Ina Lang