Also Mädels und Jungs, mal herhören: Das Schuljahr geht zu Ende, in einigen Tagen ist Notenschluss, und auf dem Lehrplan steht noch Sexualkunde und Hitler – beides schieben wir mal ganz auf Ende Juli. Das fällt dann weitgehend aus wegen Hitzefrei, Lehrerkonferenzen oder Wandertagen, egal, das war schon immer so, hier in Bayern. Wir wollen heute lieber einen kurzen, klassischen Stoff durchnehmen: die „Anekdote“. Ein immens wichtiger Stoff, der zum Lachen und Nachdenken anregt, gleichermaßen, denn in der Anekdote bündelt sich das Allgemeine im Konkreten wie der Lichtstrahl in der Lupe. Sie ist die kleine Schwester des Mythos und man weiß nie, ob sie real passiert ist. Wo kommt sie vor, die Anekdote? Naja, am häufigsten finden wir sie im Theater und im Film. Etwas seltener in der Literatur, weil hier der Atem etwas leichter geht, mehr innehält. Der Duden definiert sie als eine „kurze, jemanden oder etwas humorvoll charakterisierende Geschichte“. Apropos „Atem“ – dazu gibt es die Anekdote über einen Münchner Dichter, der es – als bisher einziger – bis zum Kultusminister gebracht hat, allerdings im falschen Land. Weiß jemand, wen ich meine?
Natürlich kennt heute kaum noch jemand Johannes R. Becher, 1891 in München geboren, als Sohn eines königlich bayerischen Staatsanwalts und auch entsprechend gezwiebelt von klein auf, zwei Suizidversuche, eine Tötung auf Verlangen, ganz im Geiste des Heinrich von Kleist. Könnt Ihr alles googeln. Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war dieser Dichter und Kultusminister der DDR gestorben. Seine damalige Witwe Lilly wurde von Journalisten Monate nach seinem Tod besucht und zeigte ihnen die gesamte Hinterlassenschaft des hochverehrten Verstorbenen – Bücher, Manuskripte, Schreibmaschine, Hüte. Und dann griff sie zu einem Luftmatratzen-Kissen und meinte ehrfurchtsvoll: „Da ist noch sein Odem drin, stellen Sie sich das mal vor, er hat das selbst aufgeblasen!“
Tja, Leute, was folgt daraus? Was sagt das über den Dichter oder besser über seine Witwe, und über die alte DDR? Steckt im Odem die Seele, wie die Bibel suggeriert, und was passiert damit, wenn jetzt Euer Papa eigenmündig die Luftmatratze aufbläst? Ob der alte Johannes Robert Becher an die Existenz einer Seelen-Substanz geglaubt hat, wissen wir nicht – ganz heimlich vielleicht schon, es wäre ihm zuzutrauen, auch wenn es sich für einen waschechten Kommunisten eigentlich nicht gehörte.
In jedem Fall ist jetzt Badezeit und Ihr könnt Euere Luftmatratzen aufblasen und auf eigenem Atem hinaustreiben aufs Wasser und von guten Noten träumen und schönen Jungs und Mädchen. Auch Gedichte lesen kann dabei nicht schaden. Sie müssen nicht unbedingt vom alten Becher sein. Wo sein Luftkissen aufbewahrt wird, und ob sein Odem heute noch erhalten ist, werden wir wohl nicht mit letzter Gewissheit erfahren.
W.H.