Von Sevda Cakir

Slata Roschals Debütroman „153 formen des nichtseins“ ist wie eine True-Story-Serie, die die Rezipient*innen fest im Griff hat. Die 153 Folgen über das Leben von Ksenia Lindau wirken lange nach. Vielleicht, weil die Schilderungen der Protagonistin über ihre Identitätsbildung schonungslos und ehrlich sind. Sie müssen verdaut werden. Komalesen ist deswegen nur unter Vorbehalt zu empfehlen, wenn Fans wissen wollen, wie es weitergeht. Die Episoden sind in Form und Inhalt unterschiedlich erzählt, wie z. B. in Flashbacks oder als eine Überlebensstrategie in schwierigen Gefühlssituationen – sie könnten Triggerwarnungen enthalten: Von bodenlos ermunternder Frechheit bis zu Missbrauchsandeutungen.

Slata selbst versteht die Kapitel über das Leben der Ksenia als eine Gesprächsgrundlage, um über die Identitätsentwicklung in einer Gesellschaft zu sprechen. Erst wenn wir wissen, wer wir nicht sein wollen, können wir darüber sprechen, wie wir sein wollen und wie wir uns unsere Mitmenschen wünschen, sagt sie in einem Gespräch in München, wo sie auch lebt. Es gehe ihr um Verantwortung. Wie sie vom Individuum und Kollektiv getragen werden könne. Diese beiden Formen der Gestaltung von Verantwortung spielen alsbald in einer Gruppe eine wichtige Rolle, wenn es um das Miteinander geht. Davon kommen einige Beispiele in ihrem lyrischen Roman vor.

Als Selbstständige ist Slata Roschal viel unterwegs zwischen Aufträgen, Moderationen und Lehrtätigkeiten. Die unterschiedlichen Formen ihrer Tätigkeiten bereichern auch ihr Umfeld. Zum einen die Studierenden: Nachdem sie im Sommersemester 2023 in Innsbruck in „magischer Sprache“ – z. B. in Lyrik – unterrichtet werden, können sie im einschlägigen Literaturblatt „mosaik“ das Veröffentlichen üben. Zum anderen profitieren davon die Lesenden, die in einem Live-Format, das von Slata moderiert wird (www.lesereihewerk-statt.de), dem Austausch zwischen zwei Schreibenden folgen können. Hier philosophieren diese über die soziale Verantwortung in der Wortkunst (am 16. und 26. Juni – Anmeldung unter info@lesereihewerk-statt.de). Last but not least kann Slata nach erfolgreicher Bewerbung in Künstler*innenresidenzen kreativ sein und an ihrem nächsten Prosawerk arbeiten. Virginia Woolfs Feststellung „Eine Frau muss Geld und ein Zimmer für sich allein haben, wenn sie schreiben will“ bewahrheitet sich hier, denn im Frühjahr 2024 wird der nächste lyrische Roman publiziert.

Wenn die junge Autorin unterwegs ist, führt sie in dieser Zeit eine Art Fernbeziehung zu ihrem Kind und Ehemann. Damit es funktioniert, unterstützen sie sich als Kernfamilie gegenseitig. Das Geheimnis dieses Erfolgs könnte in der Selbstermächtigung liegen. Vom Prozess des Empowerments schreibt sie schon in ihren ersten zwei (Gedicht-)Bänden, mit denen sie vor ihrem Debüt die Feuilletons auf sich aufmerksam gemacht hat. Außerdem hat sie als Slata Kozakova – zusammen mit Matthias Friedrich – die Anthologien „Einbildung eines eleganten Schiffbruchs“ und „Weniger eine Leiche als vielmehr eine Figur“ herausgegeben. Bei den beiden Werken handelt es sich um Gedichte und Erzählungen aus dem Ostseeraum. Es folgten viele Nominierungen und Auszeichnungen, die Liste ist lang. Auf ihrer Homepage lässt sich das alles nachlesen.

Schon als Kind im Grundschulalter begann Slata Roschal zu schreiben. Sie kann sich noch an die Prosa-Texte erinnern. Sie könne nichts anderes als schreiben, sagt sie jetzt als Erwachsene. Na, welch’ ein Glück. So kann die Schriftstellerin weiterhin alle verzaubern.

In unserer Serie „Jung und schreibend“, in der wir junge Münchner Autor*innen vorstellen, porträtierten wir bisher Lisa Jeschke, Leander Steinkopf, Daniel Bayerstorfer, Katharina Adler, Benedikt Feiten, Caitlin van der Maas, Samuel Fischer-Glaser, Vladimir Kholodkov, Annika Domainko, Jan Geiger, Ines Frieda Försterling, Rebecca Faber, Natascha Berglehner, Tristan Marquardt, Martin Kordić, Moritz Hürtgen, Bernhard Heckler, Joana Osman und Mira Mann.