„Wir erzählen unser Leben in Geschichten“, hat die Kinderbuch-Autorin Kirsten Boie einmal in einem langen Gespräch mit der ZEIT gesagt. Und von der amerikanischen Intellektuellen Joan Didion gibt es einen Essay-Band mit dem schönen deutschen Titel „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“. Das Geschichtenerzählen ist wirklich eine schöne Sache. Mancher lange laue Sommerabend bleibt in Erinnerung wegen der vielen lustigen, traurigen, bestürzenden Geschichten, die wir gehört haben. Aber die Zeit der Geschichten ist vorbei. Wir erzählen uns keine Geschichten mehr, sondern Narrative.
Irgendjemand ist vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, dass es schlau klinge, wenn er seine Geschichte mit dem aus den Sozialwissenschaften entlehnten Begriff „Narrativ“ überschreibt. Damit war sie in der Welt, die Narrativ-Welle. Seither werden wir in Talkshows, in Nachrichtensendungen, in Podcasts geflutet mit „Narrativen“. Wer in irgendeiner Form auf sich hält, bemüht das „Narrativ“. In durchaus ernst zu nehmenden Talkrunden mit klugen Menschen fliegen die „Narrative“ nur so hin und her.
Was veranlasst intelligente Menschen, Begriffe wie Papageien nachzuplappern? Nein, nicht nur nachzuplappern, sondern diese Begriffe oder Redewendungen in jeden zweiten Satz einzubauen. Ohne sich blöd dabei vorzukommen. Aber es kommt sich auch niemand blöd vor, wenn er in einer Art blickdichter Strumpfhose vor die Haustür tritt und sich angezogen wähnt. Lassen wir das, um Mode geht es nicht. Doch, es geht um Mode. Um Nachmachen. Um schlechten Stil.
Mir wurde als Kind von den Eltern ein scheußliches „Gell“ hinter jedem zweiten Satz abgewöhnt. Ich war nicht die einzige mit diesem Sprachfehler. „Gellern“ nannte man das. Kann es sein, dass Eltern in diesem Punkt heute vollständig versagen? Denn „gegellert“ wird, wo man steht und geht. Das beliebteste „Gell“ ist im Moment ein gänzlich unpassendes, nahezu überall angehängtes „Genau“.
Es ist vor allem dieses Nachplappern, das mir zu schaffen macht. Plappert man nach, um sich zugehörig zu fühlen? Um nicht länger allein zu sein? Da erfindet jemand, dass man sich fortan nicht mehr „an“ etwas erinnert, sondern dass man nur noch erinnert. Ich erinnere mich also nicht mehr „an“ meine alte Tante Paula, nein, ich erinnere Tante Paula. Im Bayerischen gibt es die grammatikalisch falsche Redewendung: Ich gratuliere dich. Statt dir. Das ist halt Dialekt. Aber wenn in Talkrunden intelligente Menschen nur noch „erinnern“ und das „an“ weglassen, dann fragt man sich doch: Werdet ihr demnächst auch sagen „Ich denke dich“, sollte das jemand in Mode bringen?
Ich werde mich jetzt nicht auch noch lustig machen über das „Bin ich bei Ihnen“ oder das „Am Ende des Tages“. Ich verabschiede mich stattdessen mit einem: Wir werden dieses Narrativ erinnern. Und das nachhaltig!
Gabi Eichl