Von Marc Richter

Die Geschwindigkeit des Zugs ließ die Tropfen horizontal über die Fensterscheibe laufen und der dickste Tropfen, dachte Sebastian, war Vater. Immer schneller als alle anderen, unaufhaltsam – bei einer Kollision mit einem kleineren Tropfen: einnehmend und unbeeindruckt. Er raste einfach an allem vorbei zum Rand der Scheibe und das war’s dann.

Das Fensterglas: nur ein Tag im Leben Vaters, oder das ganze – Sebastian konnte es nicht sagen, und er war sich nicht sicher, ob es einen großen Unterschied machte. Immerhin war das jetzt alles vorbei und bald käme ein Deckel drauf, Blumengebinde, eine Hand voll Erde.

Er nahm seinen Kopf von dem in die Reisehülle verpackten schwarzen Anzug, der neben seinem Sitzplatz an der Innenwand des Abteils hing, und spürte für einen Moment den Vibrationen auf seiner rechten Gesichtshälfte nach, die mit einem Mal verschwunden waren und die er gerade deshalb so viel deutlicher wahrnahm. Es fühlte sich an, als hätte eine Hälfte seines Gesichts eine völlig andere Form angenommen, und Sebastian dachte, das müsse daran liegen, dass sie unter der ausdauernden Massage durch die Zugwand eingeschlafen sei. Trotzdem wollte er nun im Zugfenster prüfen, ob sein kurzes Versinken in Gedanken und dem weichen, aber kühlen Stoff der Reisehülle nicht doch eine Entstellung nach sich gezogen hatte. Statt seinem Gesicht fand er die vorbeiziehende Landschaft, grau vom ausdauernden Regen, Felder unter einem dunklen Wolkenteppich, hin und wieder einen Waldrand in der Ferne, Dörfer, die dazwischen lagen, die kamen und gingen, näherrückten, zur Vorstadt wurden. Das Vorbeirauschen eines Bahnsteigs kam Sebastian so unvermittelt und unmittelbar nah vor, als wäre der graue Beton direkt durch seinen Kopf gefahren. Das blaue Schild mit dem Stationsnamen unlesbar und kurz wie ein aufblitzender Gedanke.

Eine Haltestelle, an der man nicht hält, bleibt eine Haltestelle. Er wusste auch ohne Durchsage: Nächster Halt, Endstation, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.

Auf der Zugtoilette zog er seinen schwarzen Anzug an. Der ICE wurde langsamer und kam ruckartig zum Stehen. Sebastian stieß sich leicht am Spiegel und hielt sich beim Aussteigen die Stirn. Als seine Füße den Bahnsteig berührten, flatterten Tauben in der Gleishalle des Kopfbahnhofs auf. Er sah ihnen nach, bis sie einen Platz gefunden hatten, der Schutz bot.