Neulich saß ich im Zug von Berlin nach München, umgeben von ernst gekleideten Menschen, die eifrig in Laptops tippten oder in Zeitungen blätterten und sich up to date mit dem weltpolitischen Geschehen brachten. Ich selbst saß da mit einem Buch, dessen Titel, der in der Buchhandlung noch eine Kaufentscheidung ausgelöst hatte, mir plötzlich äußerst peinlich wurde: „A Natural History of Dragons“ – ein wirklich wunderbares Buch übrigens, ich kann es allen empfehlen, die gerne von Drachen und Abenteuern lesen.

Bücher, Magazine, Zeitungen sind Aushängeschilder von Intelligenz. Nicht mehr nur Kleider machen Leute, auch Bücher tun das. Ich bin, was ich lese. Und mich beschlich ein leicht beklemmendes Gefühl, was sich diese ganzen Businessmenschen wohl denken mögen, wenn eine erwachsene Frau unter ihnen ein Buch über die Entstehung und Anatomie von Drachen liest. Ich bemühte mich, das Buch möglichst unauffällig zu halten, letztlich legte ich es mit der Rückseite nach oben ab. Wenigstens konnte man jetzt die anatomische Zeichnung eines Drachen nicht mehr sehen. Und da war sie, die Frage: Warum schämen wir uns eigentlich für manche Bücher? Mit Kleidung sind wir doch wirklich liberal geworden – durchscheinend, schrill, kaum vorhanden, alles erlaubt. Ich zeige meine Individualität durch Kleidung, lebe mich aus. Aber Bücher? Man muss nicht dabei gesehen werden, wie man den neuesten spicy Fantasy-Roman liest, aber in aufreizender Kleidung die SZ zu lesen, das fühlt sich unbedenklich an.

Wo kam dieses Unbehagen her? Ich fing an, mich umzuschauen. Diejenigen, die weder arbeiteten noch Zeitung lasen, saßen leicht vornübergebeugt über ihren Handys, die Daumen in immerwährender Bewegung, am Tippen oder noch eher am Scrollen von Videos. Würde ich mich auch schämen, wenn ich dabei beobachtet würde, wie ich vier Stunden lang auf Instagram-Videos scrolle? Komischerweise eher nicht, als wäre es viel normaler, stundenlang – und ohne dass man im Anschluss noch sagen könnte, was man alles gesehen hat – Minivideos in sich hineinzuschütten, als ein Buch zu lesen und eine Gedankenwelt dazu zu bauen.

Scham ist selten hilfreich in meiner Erfahrung. Und mein Drachenbuch habe ich beendet. Den nächsten Teil gedenke ich, in welcher Kleidung auch immer, in der U-Bahn zu lesen und mir diese Scham abzugewöhnen. Buch ist Buch, Kleidung ist Kleidung und Mensch bleibt Mensch. Statt mich zu schämen, dass ich lese, sollte ich lieber den vielen Büchern nachtrauern, die ich nicht schaffen werde, zu lesen, weil die Ernsthaftigkeit des Lebens einen mit einer weiteren Excel-Liste betraut. Und wieso sollte man sich dafür schämen, dass man nicht jede Sekunde seines Lebens versucht, Leistung oder Wissen zu steigern? Ich bin am liebsten mit Menschen zusammen, die reiche Perspektiven haben, eine blühende Fantasie und Leichtigkeit versprühen. Und diese Leute dürften es ja kaum komisch finden, wenn jemand sich, statt in Aktienmarktkurven, in Drachenanatomie weiterbildet.

Marie Türcke