Als Erich Kästner 1936 seine „Lyrische Hausapotheke“ veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass sich die Idee, gegen seelische Leiden
eine literarische Rezeptur zu verschreiben, bis zu einer alternativen psychotherapeutischen Behandlungsform entwickeln würde.

Von Markus Czeslik

Kästner veröffentlichte sein berühmtes Medizinschränkchen, ein „Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens“ dienen sollte, mit einem Augenzwinkern. 36 Leiden führt er auf (darunter „wenn der Winter dräut“, „wenn der Lebensüberdruss regiert“ oder „wenn das Alter traurig stimmt“) und stellt ihnen eine ungewöhnliche Arznei entgegen – nicht in Tabletten-, nicht in Salben-, sondern in Gedichtform. Da sind die berühmte „Sachliche Romanze“ zu finden, das „Eisenbahngleichnis“ und viele mehr, deren Lektüre er jeweils in bestimmten Gemütslagen empfiehlt.

Vom verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist überliefert, dass ihm dieses Buch dabei geholfen habe, die schreckliche Zeit im Warschauer Ghetto zu überstehen. Da er das Buch dort selbst nicht erwerben konnte, kam seine spätere Frau Teofila auf die Idee, alle Gedichte von Kästner abzuschreiben und sie eigenhändig zu illustrieren. Man kann sich vorstellen, welche Wirkung dieses besondere Geburtstagsgeschenk auf den jungen Reich-Ranicki hatte. Ähnlich bewegt soll auch Erich Kästner selbst gewesen sein, als der damalige polnische Redakteur ihm bei einem Interview 1957 in München davon erzählte.

Diese und zahlreiche andere Anekdoten, die von der heilsamen Wirkung der Literatur erzählen, hat Andrea Gerk in ihrem Buch „Lesen als Medizin“ versammelt. Und das darf durchaus wörtlich genommen werden. Im frühen 19. Jahrhundert verschrieben Ärzte Bücher zur Orientierung und Linderung von Leiden, und Bibliotheken leisteten einen wichtigen Beitrag zu den europäischen psychiatrischen Einrichtungen in Europa. Auch viele Militärkrankenhäuser verfügten über Bibliotheken. Soldaten, die am Ersten Weltkrieg beteiligt waren, vertieften sich in Literatur, um ihre Traumata zu bewältigen.

Heute werden umfangreiche Weiterbildungen in Biblio- und Poesietherapie angeboten. Im Austausch zu einem literarischen Werk soll der Patient/die Patientin  selbst lernen, seine/ihre  Lebensprobleme zu bewältigen, etwa indem er/sie  sich mit den Lösungsstrategien der Protagonisten auseinandersetzt und eigene Strategien entwickelt. Dabei kann sowohl das Lesen beispielsweise von Kurzgeschichten, Romanen, Dramen oder Gedichten als auch das Schreiben eigener Texte zu therapeutischen Zwecken genutzt werden.

Gerade Gedichte entfalten eine große tröstende Wirkung. In Weßling im Süden von München praktiziert Dr. med. Felizitas Leitner. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Lyrik den Menschen nicht nur seelisch unterstützt, sondern auch in der Allgemeinmedizin ein unschätzbares Heilmittel sein kann. In ihrem Buch „Die Venus streikt. Gesund durch die Kraft der Poesie“ hat die Medizinerin klassische und moderne Gedichte versammelt, mit deren Hilfe ein breites Spektrum möglicher Schmerzsituationen und Heilansätze analysiert wird.

Im Rahmen der Ringvorlesung „Humanität in der Medizin“ an der TU München erläuterte Dr. Leitner die therapeutische Wirkung von Lyrik: „Beim Lesen kann es sein, dass ich ein Gefühl entdecke, das ich wiedererkenne, eine Situation, die mir vertraut ist.“ Die Stärke eines Gedichts liege dabei in seiner Deutungs-Offenheit: „Ich kann es immer wieder lesen und dabei immer wieder neue Möglichkeiten der Selbstvergewisserung finden.“ Die Aussage des Dichters führe oft zu einer Deutung, die nicht vom Therapeuten angeboten, sondern vom Patienten/der Patientin selbst entdeckt werde, wenn er/sie sich vom Text angesprochen fühlt.

Auf ihrer Seite literaturpower.de hat die Literaturwissenschaftlerin Trude Schneider neben zahlreichen Interviews und Hintergrundinformationen zum Thema eine Vielzahl an Buchempfehlungen für verschiedene Gemütslagen zusammengestellt – von Bernhard Schlinks „Olga“ als Orientierungsfigur für Resilienz bis zu Daniel Schreiber, der das Alleinsein neu bewertet.  Der Effekt, der sich beim Lesen einstellt, dass man eben nicht allein sei, dass andere etwas Ähnliches erlebt haben, sei nicht zu unterschätzen.

Im Grunde betreiben auch Buchhändler*innen eine besondere Form von Bibliotherapie, wenn ihre Kund*innen zum Beispiel nach Literatur fragen, die Freude bereitet oder Trost spendet. Und ja, vielleicht findet sich eines Tages noch ein prall gefüllter Bücherschrank in der Apotheke oder Arztpraxis Ihres Vertrauens.

Der im Text erwähnte Gedichtband „Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ ist in einer Neuausgabe von 2009 beim Züricher Atrium Verlag für 20 Euro erhältlich.