Von Hartwig Nissen
Ich kann nicht behaupten, dass ich stolz darauf bin. Ich hatte gelogen, als Britta mich nach meiner Arbeit fragte. Ich sagte, ich hab frei, wegen Schlechtwetter, weil unser Team beim Brainstorming nicht komplett war. Und die Ausrede passte gut, es regnete gerade in Strömen. Sie sagte nichts.
Wir sind sicher nicht das ideale Paar, Britta und ich, aber jedenfalls wird nicht gelogen oder geschwindelt oder gemogelt bei uns. Normalerweise. Aber nichts war normal an dem Tag. Angefangen hatte es damit, dass ich in der Firma so ein kleines Teil eingesteckt habe, glänzend verchromt. Eine von diesen kleinen Zangen, mit denen man die Heftklammern aus Dokumenten zieht. Der Chef hatte es wohl gesehen. „Leeren Sie Ihre Taschen“, meinte er. Es war peinlich und ich flog sofort raus. Er hasste mich, weil sein Vater, der machtlose Senior, mich gern hatte.
Britta kam schon um drei heim an dem Tag, und als ich um die Zeit schon zu Hause war, hat sie sich gewundert. Sie akzeptierte meine Erklärung und hat nichts weiter gesagt. Es ist natürlich die Frage, warum ein Werbetexter bei Schlechtwetter seine Arbeit verlässt. Meine Lüge war eine Notlösung. Fürs Erste. Ich bin von da an untertags nicht mehr nach Hause gegangen. Britta schien nichts zu merken. Die Kumpel in der Eckkneipe, wo ich öfter mein Bier trinke, machten schon Witze über mich. Frührentner und Urlauber nannten sie mich. Lange geht das nicht gut, dachte ich. Spätestens zum Monatsende würde ich Britta reinen Wein einschenken müssen und beichten, dass sie mich bei Bauheimer und Sohn entlassen haben. Im Grunde wars ja eine Kleinigkeit, eine Dummheit eigentlich. Wir nannten den Laden immer Blauheimer, weil der Juniorchef gern sehr tief ins Glas schaute.
Ab und zu lud mich Carlo, ein früherer Kollege von Bauheimer, noch auf ein Bier ein, wenn ihm beim Texten partout nichts einfiel. Einmal suchte er einen Namen für eine neue Windel. „Cosies“ schlug ich vor: „Cosies, wenn’s schnell gehen muss.“
Schließlich, am achtundzwanzigsten, hab ich Britta Bescheid gesagt. „Warum hast du’s mir nicht gleich erzählt?“, meinte sie. „Ist doch kein Beinbruch. Wieso hast du kein Vertrauen mehr zu mir, Andreas?“ Andreas nennt sie mich selten. Ich ließ den Kopf hängen, vielleicht etwas zu tief, zugegeben, aber es war keine Masche. Ich war wirklich niedergeschlagen.
„Wieso nicht, Andi? Ich muss es ja doch ausbaden.“ – „Ich hab mich so geschämt“, sagte ich leise. Da fing Britta an zu weinen und hat mich umarmt. Ich saß, sie stand bei mir. Sie drückte mich an sich, dass es ganz dunkel wurde und ganz warm an ihrem Bauch. So sollte es für immer sein, dachte ich. Sie nahm meinen Kopf in die Hände, sanft, liebevoll. Aber sie hielt mich auch etwas auf Abstand, so dass ich nicht auf ihre OP-Narbe drückte.
Letztlich hatte ich doch noch Glück im Unglück. Im Supermarkt sah ich ein Jobangebot. „Wir brauchen dich in unserem Team!“ Ein mieser Text, Rot auf Gelb. Sah aus wie ein Warnschild bei einer Baustelle. Sie nahmen mich als Auffüller. Die Regale säubern und die Sachen kurz vor Ablaufdatum vorn hinstellen. Herr Abram zeigte mir alles. Ich bekam ein Firmen-T-Shirt und konnte gleich danach anfangen. Ich holte mir einen Rollwagen, aber Abram rief mich zurück. „Und noch etwas, Andi. Nichts einstecken!“, sagte Abram leise. Ich erschrak, er konnte doch gar nichts über mich wissen, er hatte wohl einen sechsten Sinn mit seinem Schnurrbart, bei dem die Haare seitlich gezwirbelt waren wie kleine Antennen. Ich ließ mir nichts anmerken und lachte. „Nein, nein“, sagte er ernst. „Kein Scherz. Nichts einstecken! Nichts heißt nichts. Gar nichts. Absolut zero. Nichts, was am Boden liegt, keine kaputte Packung, keine Praline, keine Nuss, kein Bonbon, keine Kartoffel, keine abgeknickte Rose. Nichts. Nada. Und wenn du“, er sah sich um, „wenn du einen Kunden beim Klauen erwischst, nicht tätig werden, sondern gleich bei unserem Detektiv da hinten melden. Und übrigens, du bist ja nicht auf den Kopf gefallen, also wenn du dich hier gut machst, demnächst wird ein Chef-Auffüller gesucht, wenn die Filiale in Trabhausen in Betrieb geht. ‚First Provider in Charge‘ nennt sich der Job.“ – „First Provider“, das klang nicht schlecht, und in Trabhausen war die Gefahr geringer, meine Kollegen aus der Werbeagentur zu treffen.
Ich füllte Chips auf, bunte Zellophantüten, das ganze Regal ein Chaos: halb herunterhängende Preisschilder, alle Sorten durcheinander, Petersilie dazwischen und auf dem Regalboden lagen lose Kartoffelchips. Ich hatte schon ein Chip in der Hand, schmeckte schon das schmelzende Salz auf der Zunge. Absolut zero, fiel mir ein. Mit aller Kraft warf ich den Chip zurück und fegte die Reste aus dem Gestell. Es würde nicht leicht werden hier, mit all den kleinen, bunten Verführungen.
Ich sah mich um. Der Detektiv namens Ganter saß erhöht in einem düsteren Kabuff mit Milchglasscheibe. Mir schien, ich würde seine aufmerksamen Augen hinter der Scheibe glühen sehen. War wohl nur ein Reflex. Er war mit irgendetwas beschäftigt. Ich schob meinen Rollwagen näher heran. Er hantierte mit Papieren. Ich trat noch einen Schritt näher. Er löste einen handgeschriebenen Notizzettel von einem gelochten Formular. Er benutzte eine kleine Zange, um die Heftklammer zu entfernen. Er ließ die Klammer in einen Aschenbecher fallen, hob den Blick und sah mich plötzlich direkt an. Ich erschrak, blieb aber ganz ruhig. Ganter hob warnend den Zeigefinger. Ich winkte zum Gruß und um zu zeigen, dass ich ihn sah, verschanzt hinter seiner abgedunkelten Scheibe. Ganter ahnte nicht, dass er einen zukünftigen First Provider in Charge vor sich hatte. In Charge, das hieß, immer verantwortlich und immer auf Trab. Auf Trab in Trabhausen.
Ich zog mein Firmen-T-Shirt aus und kaufte mit Mitarbeiterrabat ein. Salzarme Trüffelchips und einen Roten für Britta. Allerdings sollte sie im Moment unbedingt Alkohol meiden, hatte der Doc gesagt. Na ja, wir müssen die Flasche ja nicht austrinken. n
Mit dieser Kurzgeschichte gewann Hartwig Nissen 2023 den 2. Platz des 30. Haidhauser Werkstattpreises.