Damals auf dem Kickelhahn in Thüringen, vor gut 240 Jahren, wir haben das Jubiläum leider knapp verschlafen, im September 1780, hat die müde Hand des Weimarer Legationsrats, Chef der Bergbau- und Kriegskommission, ein paar unsterbliche Zeilen mit Bleistift ins Holz geritzt, etwa „in allen Wipfeln spürest du“ und „die Vögelein schweigen im Walde“. Ins Holz einer alten Schutzhütte, die später abgebrannt ist, man weiß nicht mehr ganz genau, wie der Originaltext eigentlich hieß. Und das mit dem „Bleistift“ wird einfach auch immer weitererzählt, obwohl es den damals noch gar nicht so gab. Ein Stück Graphit vielleicht, zugespitzt, ja, an dem er sich die Hände schmutzig machte, der Dichter J. W. Goethe, noch ohne „von“, und wer noch dabei war, ist auch nicht sicher.

Sicher ist nur: Dann nahm er sein Smartphone aus dem Wams und schickte die WhatsApp an seine Group, den Herzog Carl August, dessen Mutter Amalie und natürlich Charlotte Freifrau von Stein. Ob auch Herder dabei war, ist strittig. Herder war eigentlich erst später. Der junge Poet nahm ein Video auf vom Wald, vom Ausblick auf 861 Metern Höhe und von den rauschenden Fichten und sprach das Gedicht dazu, „Wandrers Nachtlied“, diese erste Version ist nicht mehr erhalten und klickte auf „senden“. Es muss so gewesen sein. Anders ist gar nicht denkbar!

Wenn Sie, verehrte Leser*in noch nicht Mitglied einer WhatsApp-Gruppe sind, spüren Sie jetzt sicher den WhatsApp-Schmerz des Nicht-Dazugehörens. Es fühlt sich ähnlich an wie früher in den alten Zeiten vor Corona auf Verlagspartys, wenn Sie den neuesten Kracht nicht kannten oder Mosebach. Oder nach dem Konzert nicht locker über die Cis-moll Klaviersonate von Beethoven parlieren konnten, dieser Bildungslückenschmerz. Es ist einfach ein Muss, seiner Gruppe die neueste Kaffeemaschine, den knusprigen Lebensabschnittspartner oder den kleinen Süßen aus dem Tier-Asyl zu appen.

Vielleicht ersetzt es uns auch andere Suchtmomente, dieses „Telefon“, wie es jetzt wieder arrogant untertreibend genannt wird. Unsere wilden Theater-
und Kinoabende, die leidenschaftlichen Lesungen im Literaturhaus oder Münchner Literaturbüro, oder – lange her – den neuen Spiegel am Montag Morgen? Jetzt allerdings kommt bald der Sommer unserer Lebenslust, ja er kommt! Wir reiten mit den Rädern durch die Straßen, mit dem Schlauchboot über die Isar, strudeln vorbei am garstigen Georgenstein und verlieren es vielleicht – das Teil! Denn es ist klein, zart und sehr vulnerabel. Ist unsere halbe Identität, unser Leben nahezu, ganz zu schweigen von den Kosten! Doch, noch immer tröstend bleibt: noch, ja, der Wald. Oder, um es mit dem Meister zu sagen, wir brauchen seine Stille, „um der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen“.

Scheint so, die besten Dinge gibt’s noch immer gratis und sehr sehr analog.

W.H.