Jubiläumsausgabe zum 85. Geburtstag von Uwe Timm

Von Ursula Sautmann

Onkel Franz hatte es in England gesehen: Das Hochrad. Er lässt es sich schicken und probiert es aus. In der Kleinstadt Coburg, wo er lebt, wird es zur Sensation. Akrobatische Künste sind erforderlich, um auf- und abzusteigen, abwärtszufahren und – wir schreiben etwa das Jahr 1890 – die Tücken der Straßen zu bewältigen. Onkel Franz lässt sich nicht aufhalten, gewinnt Nachahmer*innen, gründet eine Gesellschaft zur Förderung des Radfahrens, erfindet den Klammergepäckträger und den Antiköpfer, und ganz nebenbei erblicken auch noch das Pistazieneis und das Radler das Licht der Welt. Und weil Neues Lust auf mehr macht und den Geist anregt, wächst Onkel Franz auch in seinem eigentlichen Beruf als Präparator, als Ausstopfer liebgewonnener und lehrreicher Tiere, über sich hinaus – wahnsinnig komisch, wie er den Mops und die Dogge aus dem Hause des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha ausstopft und mittels einer gerade mal eben neu entwickelten Drahtplastik Naturtreue am Präparat überhaupt erst möglich macht.

„Der Mann auf dem Hochrad“ von Uwe Timm, erschienen 1984, ist pures Lesevergnügen. Jede Seite hält eine Überraschung bereit. Die ebenso skurrilen wie liebenswerten Eigenarten seiner Figuren, die Kleingeistigkeit der Obrigkeiten und die forsche Experimentierfreude der Mutigen und Neugierigen ergeben einen Kosmos an Kleinstadtalltag, der von der Menschenliebe des Autors überstrahlt wird. Uwe Timm hat seinen Großonkel zur zentralen Figur seiner „Legende“ über den Mann auf dem Hochrad gemacht, nicht jedes Detail wird historisch wahr sein. Verbürgt ist aber, dass der Spaß auf dem Hochrad von kurzer Dauer war, denn das Niederrad, so viel praktischer und ungefährlicher, eroberte alsbald die Welt und auch die Stadt Coburg – der wahre Siegeszug gehörte dann aber dem Auto.

Am 30. März wird Uwe Timm 85. Einen Tag später wird er sich im Literaturhaus (19 Uhr) feiern lassen. Bereits Mitte des Monats erscheint die Jubiläumsausgabe von „Der Mann auf dem Hochrad“ mit einem Nachwort von Kerstin Gleba, seiner Verlegerin bei Kiepenheuer & Witsch. Warum hat der Verlag ausgerechnet dieses Werk aus dem reichhaltigen Opus des Autors ausgesucht? Wir wissen es nicht und können nur Vermutungen anstellen. Weil es eine Hymne auf Wagemut und Neugier ist? Weil es ein Feuerwerk an Ideen zündet? Weil es pure Leichtfüßigkeit und Lebensfreude verströmt? Oder gar, weil es aufzeigt, wie die ewig Ängstlichen und Missgünstigen dieser Welt dem Neuen tatsächlich und wortwörtlich den Knüppel zwischen die Speichen werfen können? Oder doch eher, weil es ein Loblied aufs Fahrradfahren singt? Wir halten uns da an Anna, die Frau von Onkel Franz. Zunächst ist sie skeptisch, schaut aber genau hin. Und dann packt es sie. Sie will auch aufs Hochrad. Da hat nun plötzlich Onkel Franz Bedenken. Eine Frau! Und der Rock! „Dann muss man eben den Rock abschaffen“, sagt Anna, wechselt aufs syrische Beinkleid und nennt auch den Grund für ihren Entschluss:
„WeilichLUSThab!“ Möge sie uns erhalten bleiben, die Lust.

Uwe Timm: Der Mann auf dem Hochrad
Roman, 256 Seiten
Kiepenheuer&Witsch, Köln, 2025
22 Euro