Von Carina de Jonge

Die Konzertreihe gibt es schon lange. Manche Kenner behaupten, seit neun Milliarden Jahren. Selbstverständlich sind es immer andere Musizierende. Und auch die Zuschauer wechseln. Was aber bleibt, ist die allgemeine Beliebtheit der Veranstaltung. Unsere Reporterin berichtet. Den Auftakt besorgen die Vögel, angefangen mit dem Rotkehlchen. Sein hoher, zarter Gesang ist für ein Eröffnungslied ziemlich anspruchsvoll und manchen ist es vor dem ersten Kaffee noch zu viel. Bei den ersten Tönen knallen sie das Fenster zu. Dadurch wird der Zilpzalp geweckt. Dessen Auftritt ist ganz typisch für ein Vorprogramm: Es wird kaum gesungen; dafür sagt der Sänger die ganze Zeit seinen eigenen Namen. Und fragt sich oft, weshalb er nicht einfach in seinem Winterdomizil am Mittelmeer geblieben ist. Für diejenigen, die jetzt noch nicht wach sind, folgt eine Einlage mit zeitgenössischer Musik. Zuerst die Müllabfuhr mit ihrem atonalen Containerklappern. Mit etwas Glück parkt außerdem das sperrige SUV vor dem Müllraum. Beim Zurückschieben der Container stimmt dieses gerne ein allseits bekanntes, hoch geschätztes Intermezzo an: Den Autoalarm. Der Ausklang dieses Stücks ist immer gleich. Das Eintreffen des besorgten Autobesitzers wird vom genervten Nachbarn mit einem lauten Sprechgesang kommentiert: „Du Vollidiot! Glaubst du im Ernst, dass jemand dein blödes Auto klauen will?! Das Ding ist ja noch hässlicher als du und das will etwas heißen!“

Nach diesem kleinen Höhepunkt verabschieden sich die ersten Hausbewohner ins Büro. Im Flur knallen Türen, unten setzt sich ratternd das Garagentor in Bewegung. Mit lautem Knacksen wird das schwere Sicherheitsschloss der Arztpraxis im ersten Stock aufgesperrt; ab jetzt wird ständig das Surren des Türöffners zu hören sein. Manchmal eine Diskussion, die sich in den Flur hinein verlagert: „Nein… Nicht ohne Termin … Keine Methadonausgabe… Hausverbot, wenn Sie sich nicht zusammenreißen!“ Draußen vor der Tür folgt das übliche Füllmaterial für die Matinee: Das Hündchen, das jeden Morgen vor dem Supermarkt eine halbe Stunde bellt. Und dann das freudige Jaulen, wenn es endlich wieder abgeholt wird. Die Lieferwagen, Brot, Gemüse, Blumen, die beim Zurücksetzen laut piepsen, die Rollschütten, die ausgeladen werden. Einkaufswägen die über den Gehweg klappern, und mit ausgelassenem Scheppern wieder ihrer Herde angeschlossen werden. Gelegentliches Hupen an der Ampel, wenn einer nicht schnell genug anfährt, Fahrradklingeln, begleitet von einem lauten „Hallo, das ist ein Radweg!“ … Sirenen in der Ferne.

Am frühen Nachmittag reißt die Besitzerin von Kira die Balkontür auf, was von Kira mit hohem, freudigen Bellen begrüßt wird. Ein mehrfach wiederholtes, Italienisch intoniertes „Kira, no!“ beendet diesen kurzen Auftritt. Jetzt ist Amélie dran. Sie tritt immer mit ihrer Mutter auf. Der Auftritt des deutsch-französischen Duos fängt mit Amélies markerschütterndem „Nein!“ an, gefolgt von den Schritten kleiner Füßchen, die in die hinterste Ecke des Hinterhofs rennen. Dann die ruhigeren Schritte ihrer Mutter und deren beschwichtigendes Gemurmel: „Mais Amélie, calme-toi!“ (Aber Amélie, beruhige dich!) Schon bald wird ihr wisperndes Französisch überstimmt von Amélies lautem, deutschem „Nein, nein, NEIN, ICH HÖRE DICH NICHT! ICH VERSTEHE DICH NICHT!“

Sobald Amélie die Luft ausgeht und ihr Sprechgesang irgendwann abflaut, mischt sich eine heisere Stimme ein. Mit viel Rauschen, falscher Luft, sogar leichtem Pfeifen, klingt sie fast eher wie ein undichter Blasebalg als nach einer menschlichen Stimme. Obwohl sie ein bekanntes Lied singt, ist alles in der gleichen Tonlage, ohne dass eine Melodie erkennbar wäre: „Don’t worry, be happy“. Nur an der Reaktion des genervten Nachbarn, der damit das Stichwort für seinen zweiten Einsatz hat, erkennt man, dass es sich um eine Frau handeln muss: „Halt doch das Maul, du alte Hexe!“ Ab da ist es vorbei mit dem friedlichen Gesang. Beleidigungen fliegen hin und her. Es ist ein aussichtsloses Patt; keiner möchte einlenken. Mangels guter Argumente gewinnt aber auch niemand. Es bleibt nur abzuwarten, bis den Beteiligten die Luft ausgeht. Dann ist der Moment des Trompeters gekommen. Er hat von allen in diesem Block den längsten Atem, aber man muss ihm lassen, dass er die Situation nicht ausnutzt. Für jede Stimmungslage im Hof hält er die passende Melodie bereit und man hört das ganze Haus für einen Moment durchatmen. Wenn der Trompeter fertig ist, schreit niemand mehr. Die Sonne geht unter und das gedämpfte Licht lädt eine geschätzte Sängerin zu ihrem akustischen Auftritt, dem Höhepunkt des Abends. Mit ihrer umflorten Stimme singt die Amsel eine lange, etwas melancholische, aber im Großen und Ganzen versöhnliche Melodie: „Der Tag geht zu Ende. Vielleicht fühlt ihr euch heute nicht gehört. Dann macht es so wie ich: Singt euer Lied jeden Abend weiter. Werdet zur Begleitmelodie von jemandes Leben. Jedesmal, wenn ihr singt, denkt eine an ihr erstes Eis, ihren ersten Verlust, ihren ersten Kuss. Wir alle ändern uns. Auch ich habe neue Federn nach der Mauser. Und früher waren an meiner Stelle Dinosaurier. Aber was immer wieder kommt, ist der Frühling.“

Und dann ist es still.

Tourdaten: „Frühling“ läuft noch bis zum 21. 6. in Ihrem Hinterhof. Konzertbewertung: ☆☆☆☆