Da steh ich mal wieder vorm Antiquariat und stöbere in Kisten voller Bücher, auf denen fett das Urteil „Mängelexemplar“ steht. Dafür muss sich das Buch nicht schämen. Oft ist es ja so, dass ein solches Werk nur einen einzigen sichtbaren Mangel hat: das fett gedruckte „Mängelexemplar“. Dabei hat ein Buch, auf dem ein roter Bestseller-Aufkleber prangt, schon eher das Zeug zum „Mängelexemplar“. Oder denken Sie nur an den hässlichen Störer: „Sonderpreis 3 Euro“! Nein, danke.
Der Vorteil an den Aufklebern: Du kannst sie lösen. Wenn du Glück hast, ohne den Umschlag zu ramponieren. Aber es gibt noch andere Mängelexemplare mit echten Gebrauchsspuren. Spuren vom vorangegangenen Leser, kurz Vorleser. Gerade wenn ich ein Buch leihe, finde ich darin oft die tollsten Sachen: „Lieber Helmut, es ist so schön, dich als Freund zu haben“, heißt es auf der Postkarte, abgeschickt vor 1 Woche, jetzt als Lesezeichen vergessen und in den Bücherschrank gestellt. Ob Helmut nach der Karte sucht?
Mir bereitet am meisten Kopfzerbrechen, wenn der Vorleser oder die Vorleserin Unterstreichungen hinterlassen hat. Vorzugsweise unter Wörtern und Sätzen, an denen ich partout nichts Erinnerungswürdiges finde. Dann kreisen die Gedanken auf Hochtouren: Was will die Vorleserin damit sagen? (Und habe ich überhaupt verstanden, was die Autorin mir sagen will?). Diese Vorleser-Nachleser-Beziehung lässt sich noch vertiefen. Da komme ich mir vor wie in einem gedruckten Lesezirkel. Auf S. 87 heißt es im Krimi unten rechts mit Bleistift: „Na, schon den Mörder gefunden?“ Die Antwort mit einem selbstbewussten blauen Kuli: „Der Gärtner war’s!“ Ob sich Vor- und Nachleser kannten? Wie viele Nachleserinnen sind schon über diesen Hinweis gestolpert – wohl wissend, dass es meist nicht der Gärtner war?
Geradezu anmaßend eine rote Notiz im Roman auf S. 122: „Gratulation an jeden, der es bis hierhin geschafft hat. ICH STEIG JETZT AUS!“ Schamlose Übergriffigkeit in Versalien. Was machst du da? Buch zuklappen – oder jetzt erst recht? Das Mitteilungsbedürfnis der Vorleser kennt keine Grenzen und macht auch vor Ausrufezeichen keinen Halt. Es reicht nicht, Sätze oder Wörter zu unterkringeln. Weil der Vorleser den Nachleser unbedingt auf etwas Bedeutsames hinstubsen muss (pädagogischer Auftrag!), fügt er dem Unterstrichenen ein „!“ für die ignorante Nachwelt hinzu. Mir juckt es in den Fingern, dem Vorleser mit „???“ zu antworten, bevor mir einfällt, dass nach mir nur ein neuer Nachleser kommt.
Früher an der Uni war der Textmarker mein bester Freund, danach habe ich in Büchern mit sanftem Bleistiftstrich gearbeitet. Heute wird nur noch gelesen, ohne Stift im Kopf. Mit den Notizen anderer habe ich meinen Frieden geschlossen. Denn ich weiß: Der Leser von heute will auch gelesen werden. Er will sich mitteilen, und sei es nur in Form einer Unterstreichung. Ich versichere hiermit: Ich nehme sie (Sie!) zur Kenntnis.
Markus Czeslik