Von Ulrich Braun
Lötzen, 10. November 1938 – Dem Menschenauflauf am Markt würde Günter ausweichen. Sein Schulweg sollte deshalb durch die Boyenstraße führen, wo sich kalter Rauch aus den Grundmauern der Synagoge kräuselte. Ein Schutzmann hielt Brandwache und ein Fahrrad lehnte am schmiedeeisernen Zaun. Zwei Frauen steckten die Köpfe zusammen. In dieser Minute suchte der Fotograf der Lötzener Zeitung die richtige Position für seine Kamera.
Doch von Orlowitz’ zerscherbtem Schaufenster und dem Brand der Synagoge wusste Günter noch nichts, als ihm in der Hindenburgstraße Richard Orlowitz mit wirrem Haar und zerrissener Jacke entgegenkam. Ihm folgte sein Bruder Friedrich mit blutender Unterlippe. Beiden auf den Fersen: zwei SA-Männer, etwa zwanzig, vielleicht einundzwanzig Jahre alt. Mit ihren Schaftstiefeln, den Braunhemden und Uniformmützen wirkten sie älter.
Auf den Straßen waren Schulkinder, Männer mit Akten-taschen und Sekretärinnen auf dem Weg zum Amtsgericht, dazu Verkäuferinnen der Geschäfte am Markt. Schwestern-schülerinnen der Krankenpflegeschule, die neuerdings nicht mehr „masurisch“ heißen durfte, liefen miteinander tuschelnd in Richtung des Diakonissen-Mutterhauses-Bethanien. Niemand schien von der Verfolgungsjagd Notiz zu nehmen.
Richard rettete sich ins Haus seiner Eltern. Etwas dahinter umkurvte Friedrich zwei Männer mit Anzug, Hut und
Aktentasche. Die beiden SA-Leute riefen „Platz da“ und „haltet ihn“. Einen aktiven Beitrag zur Ergreifung leistete niemand, aber alle machten artig den Weg frei, um dem spontanen Volkszorn nicht im Weg zu stehen. Das war der Moment für den Auftritt der Witwe Erna Masuch.
Sie, die auf unklare Weise mit Günters Oma verwandt war, trat gerade aus ihrer Haustüre. Sie packte Friedrich am Arm und zog ihn zu sich auf den Treppenabsatz, exakt in der Sekunde, als die beiden Uniformträger ihn einholten. Friedrich hielt sich die blutende Lippe. Seine ebenfalls atemlosen Verfolger spannten mit selbstbewusst eingehakten Daumen ihre Schulterriemen und während sie noch einen Sekundenbruchteil mit der Frage beschäftigt waren, ob das Alter der Dame eine halbwegs höfliche Ansprache erforderte oder die in solchen Situationen bewährten gebellten Kommandos zur Anwendung kommen sollten, nahm Erna Masuch ihnen die Entscheidung ab. Sie schwang Schirm und Handtasche und legte los: „Ihr Rotzlöffels, ihr dammichten. Tut ihr eejch jar nich schäm’n?“
Günter kam diese Anrede bekannt vor. Zusammen mit seinem Freund Gerdi hatte er im Sommer am Wäscheplatz mit Erdklumpen auf Laken geworfen. Urplötzlich war die alte Masuch hinter ihnen aufjetaucht und hotte sie jeheerich dem Morsch jeblasn. Solches widerfuhr nun nahezu wortgleich den beiden Herren der Bewegung.
„Die Jugend gehört der Bewegung“, pflegte Onkel Kurt zu sagen. Aber dieser Augenblick gehörte der Witwe Masuch. Sie sprach ohne Luft zu holen, ohne Punkt und Komma. Alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, musste raus. Sofort und auf der Stelle.
Dass sich de Männers der Bewejung aouch schon an de Kinders verjreifen tun. Erbarrmung! Dass sie ihr doch bittescheejn moal erklären mechten, was die zwei kleejnen Jungs sie jetan hätten. Dass sie selbst janz unjezoojene Limmels wären – Uniformen hin oder her. Das habe ihnen ihr Härr Fiehrer wohl nich beijebracht, was Anstand is, weil er blos damit beschäfticht sei, sich fier dem lieben Herrjott perseenlich zu hoalten. Der kennte sich jleejch mitschämen, der Härr Fiehrer. Neejn, Erbarmung, da lääje – Günter hörte in der Wendung geradewegs seine Omchen sprechen – keejn Sejen draouf.
Die Passanten waren stehengeblieben, um zu hören, was die alte Dame zu sagen hatte. Die beiden SA-Männer zogen derweil ihre Daumen von den Schulterriemen ab, verstauten sie, weil sie sonst nicht wussten wohin damit, in den Hosentaschen und schauten auf ihre Stiefelspitzen – womit sie der Erna Masuch das nächste Stichwort gaben. Die sagte ihnen nun, was sie von de albernen Stiefels, de Reejterhosens und de braunen Hemdchens hielt. Alles kam auf einem langen Atem in immer neuen Stoßwellen. Und unter jedem Stoß wurden die beiden ein Stückchen kleiner. Sie wirkten plötzlich wie zwei Konfirmanden, die de jute Kochwäsche bejlomsort hoatten. Erna Masuch zeterte frei von der Leber weg und was ihre zarte Statur hergab. Selbst Erstklässler wie Günter wussten, dass man schon für geringere Vergehen ins Jefängnis kommen konnte.
Da ein Ende der Masuch’schen Tirade nicht abzusehen war, holten die zwei SA-Männer ihre Daumen wieder aus den Hosentaschen hervor, spannten sie noch einmal hinter die Schulterriemen, strafften sich, holten Luft und trollten sich wortlos.
Die Witwe Masuch entnahm ihrer Handtasche, mit der sie gerade noch nach den beiden Jungmännern der Bewegung geschlagen hatte, ein gebügeltes Taschentuch und betupfte Friedrichs Lippe. Nachdem ihr heiliger Zorn wie ein gewaltiger Strom ihren Körper verlassen hatte, wirkte sie wieder klein und zerbrechlich. „Jeh nach Hoause, Jungchen, und lass de Mamma bisschen Jod draoufmachn!“, sagte sie. „Das Taschentuch kann’st behoaltn.“ Damit verschwand sie im Hauseingang wie nur Erscheinungen verschwinden können. Für einen Moment standen nur noch Friedrich und Günter an der Straße. Dann wandte sich Friedrich ab und lief zu seinem Elternhaus, das noch drei Wochen lang sein Zuhause sein würde. Günter trollte sich in entgegengesetzter Richtung zur Schule.
Die Synagoge passierte er in just jenem Moment, in dem der Fotograf abdrückte. Die kleine verwaschene Gestalt mit Schultasche rechts unten im Bild, das war Günter. Er auf der Titelseite der Zeitung, das stellte alles in den Schatten. Hier war Geschichte geschrieben worden und er war dabei gewesen. Die Zeitung berichtete sachlich vom Brand der Synagoge und den Schäden an einigen Geschäften. Der Kommentar aber ließ keinen Zweifel daran, dass das deutsche Volk sich mutig und in machtvoller Weise dem Weltjudentum entgegengestellt hatte.
Dies ist die gekürzte Fassung des Textes, mit dem Ulrich Braun im Oktober 2024 den 31. Haidhauser Werkstattpreis gewann. Es handelt sich um ein Kapitel aus dem Roman-Entwurf „Abschied, immerzu Abschied“.
Jeden ersten Freitag im Monat können sich Autor*innen im Münchner Literaturbüro für die Teilnahme an diesem Publikumspreis qualifizieren.
muenchner-literaturbuero.de