Mit Schweigen anzufangen ist schwer. Zum Beispiel hat dieser Text mit Schweigen angefangen. Bemerkt hat’s keiner. Schweigen kann erst beginnen, wenn Nichtschweigen vorausgegangen ist. Jetzt, unter „zweitens“, könnt’ ich also theoretisch für Sie merklich schweigen. Na ja. Jedenfalls gibt es dennoch Menschen, die felsenfest behaupten, dass am Anfang nicht das „Wort“, sondern das Schweigen stand. Behaupten kann man das ja mal. Beweisen lässt sich das nicht. Schweigen trägt viel Geheimnis in sich, fasziniert, schillert. Die Literatur, die sich durch Worte, viele, viele Worte auszeichnet, ist voll davon. Väter schweigen oft. Großväter noch mehr (was womöglich mit dem sehr deutschen „kommunikativen Beschweigen“, wie das der Philosoph Hermann Lübbe nannte, zu tun haben könnte). Mörder sowieso. Schweigen drückt.
Der große John Cage behauptete: „Die Stille will, dass ich weiterrede.“ Und der kannte sich aus mit Pausen und Ähnlichem. Wobei Stille und Schweigen zwei Paar Schuhe sind. Auf der Bühne lässt sich leichter schweigen, und zwar auch von Anfang an. Estragon erscheint und versucht sich eines dieser Paar Schuhe anzuziehen. Klappt irgendwie nicht. Jedenfalls schweigt er erst mal, bis – zwar nicht Godot – dafür aber Wladimir erscheint. Schweigen kann man hören oder nichthören. Sehen kann man es auf jeden Fall.
Wenn ein Roman mit dem Satz beginnt, „Die Hausangestellte schwieg hartnäckig.“, dann fängt dieser Roman tatsächlich mit einem Schweigen an, auch wenn man ahnt, dass da einiges an beredter Unannehmlichkeit vorausgegangen sein mag und dieser Roman es auch nur deshalb schafft, mit Schweigen zu beginnen, weil das Schweigen ein sichtbares Abbild in Form von Buchstaben bekam. Schweigen muss man sehen, um es zu glauben. Schlag ich wahllos irgendein Buch auf, wird da sichtbar geschwiegen. Wetten? Also, ein Buch vom nächsten Bücherstapel genommen: Benedict Wells’ „Die Geschichten in uns“. Dann irgendwo aufgeschlagen. Seite 90: „Jetzt wirklich?“ / „Ja.“ / „Also wirklich, wirklich? Zu einhundert Prozent?“ / „…“ / „…“ / „Wahnsinn.“ / „Ja.“ Eine*r sagt da also mal nichts. Er/sie schweigt, worauf der/die andere nichts sagt, also schweigt. Schweigen muss man hören, um es zu glauben. Dieser seltsame Herr Murkes in einer von Heinrich Bölls Kurzgeschichten sammelt als Cutter beim Hörfunk Schweigen. Er schneidet die Schweigemomente aus den Aufnahmebändern heraus und klebt sie aneinander. Ein Tondokument, das einen wirklich runterbringt. Im Gegensatz zu WhatsApp-Infos wie dieser: „Diese Nachricht wurde gelöscht.“ Was stand da mal, warum wurde gelöscht, was bedeutet dieses Schweigen inmitten all des Geplappers? Sag mir das! Jetzt!
Gelöschte Worte brüllen.
Dika