[LiSe 09/22] Kolumne: Meine liebe Zeit

Träume nerven. Also, Träume in der Literatur. Zumal die Zeit für Traumpassagen biblischen Ausmaßes vorüber ist.  Die waren ja damals geradezu existenziell und richtungsweisend für alles, was da noch kommen sollte. Man denke nur an den Träumer Josef und die sich verbeugenden Garben, aber auch der Pharao träumte ja recht vielsagend von den sieben fetten Kühen, die aus dem Nil gestiegen kamen, und dann kamen noch die sieben mageren, und die mageren haben die fetten gefressen, ohne dabei – und das hat Bedeutung – selbst ein Gramm Fett zuzulegen … Pah! Auch Jakobs Traum von der Leiter, Engel rauf, Engel runter und das immer wieder, ist nicht ohne. Abgesehen davon, dass diese Träume die Zukunft vorausgesagt und also dafür gesorgt haben, dass man sich zum Beispiel auf eine Hungerkatastrophe vorbereiten konnte, haben sie Menschen wie Josef, Jakob … wirklich groß rausgebracht. (mehr …)

[LiSe 06/22] Kolumne: Ich erinnere dieses Narrativ

„Wir erzählen unser Leben in Geschichten“, hat die Kinderbuch-Autorin Kirsten Boie einmal in einem langen Gespräch mit der ZEIT gesagt. Und von der amerikanischen Intellektuellen Joan Didion gibt es einen Essay-Band mit dem schönen deutschen Titel „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“. Das Geschichtenerzählen ist wirklich eine schöne Sache. Mancher lange laue Sommerabend bleibt in Erinnerung wegen der vielen lustigen, traurigen, bestürzenden Geschichten, die wir gehört haben. Aber die Zeit der Geschichten ist vorbei. Wir erzählen uns keine Geschichten mehr, sondern Narrative. (mehr …)

[LiSe 05/22] Kolumne: Nee jetzt

Zuerst einmal ist da die Neugier. Man will es genau wissen, umstellt das rätselhafte Etwas, damit es ja nicht entwischt, nähert sich ihm langsam, schnappt zu … und die Erkundung kann beginnen. Es ist ein stufenweiser Prozess, der sich hinter dem schlichten, althochdeutschen Wort „firstan“ verbirgt, ihn zu fassen sucht. Über die mittelhochdeutsche Zwischenstation des „verstan“ hat es sich zu unserem heutigen „verstehen“ entwickelt, ein Verb, das nach all den Jahren zur Verfaserung neigt. „Ich verstehe“ kann heißen, dass ich etwas deutlich gehört habe, dass meine Ohren also in Ordnung sind. Es kann zweitens ausdrücken, dass ich etwas kapiert habe. Drittens lässt sich mit „verstehen“ sagen, dass ich mit jemandem mitfühlen, mich in ihn hineindenken kann. „Ja. Versteh dich echt voll.“ (mehr …)

[LiSe 04/22] Kolumne: Parasiten-Bücher

Das Schöne an Ana Ivanovic ist ihr offenes Lächeln, etwas übermütig und ganz ohne Kunsthonig. Sie steht auf den Fotos der Champagner-Buch-Präsentation in einem Berliner Nobelhotel von „Einer von Euch“ neben dem Olivenbauern Martin Suter, der neben dem Bauernbuam von der Oberaudorfer Schweinsteige in die Kamera grinst. Der Kriminalschriftsteller und frühere Werbetexter aus der Schweiz hat den ehemaligen Fußballer Sebastian Schweinsteiger befallen, ausgefragt und ausgesaugt und ein ziemlich mittelmäßiges Buch, einen „Biographischen Roman“ verfasst, der nahezu einhellig verrissen wurde, schade um Ana. (mehr …)

[LiSe 03/22] Kolumne: Irgendwer lacht immer!

Lesung eines zeitungs-bekannten Kolumnisten: Es wird heiter werden, es darf gelacht werden. Ein Lacher disqualifiziert an einem solchen Abend nicht. Die Atmosphäre ist gelöst, der Autor gibt sich leutselig. Auf den meisten Gesichtern das entspannte Lächeln des gediegenen Lesungs-Publikums vor unbeschwerter Kost mit Anspruch. Der Autor blättert, er hat noch keinen Satz gelesen, nichts gesagt, da bläst es aus einer der hinteren Reihen. Als wolle jemand einen Mückenschwarm fortblasen. Der Vorleser blickt nicht auf, lässt nicht erkennen, ob er den Bläser bemerkt hat. Auch die Zuhörer reagieren nicht. Dann die ersten Sätze der ersten Geschichte. Es gibt definitiv nichts zu lachen. Noch nicht. (mehr …)

[LiSe 02/22] Kolumne: Literally

An Journalistenschulen hört man, dass es wichtig sei, schön zu schreiben, noch wichtiger aber sei es, wahr zu schreiben. „Sei“, „sei“, „zu schreiben“, „zu schreiben“… Kurz aufeinanderfolgende Wortwiederholungen. Nicht sehr schön, aber der Satz ist wahr und darauf kommt es an. Zumal Zeitungsmenschen oft unter Zeitdruck stehen und nicht jedes Wort fünfmal umdrehen oder sich auf die krampfhafte Suche nach Synonymen, die am Ende doch nicht ganz so synonym sind, machen können und wollen. Dass es oft genug möglich ist, schön und wahr zu schreiben, zeigen Aussprüche, die man sich am liebsten übers Bett hängen würde. Wie zum Beispiel: „Sagen, was ist.“ Ist vom großen Magazinmacher Augstein (und jawoll: ein Hoch auf 75 SPIEGEL-Jahre!) und gerade in seiner Knappheit wirklich wunderbar. Und wahr ist er auch noch. Fast zu schön, um wahr zu sein, könnte man ein bisschen böse witzeln. Na, ja. (mehr …)