Von Katrin Diehl

Festlegen lässt er sich ebenso wenig wie bestimmen. Weil eben nicht nur das Ergebnis, das, was am Ende zu sehen, zu hören, zu lesen ist, zählt. Irgendwie hat er es bis auf T-Shirts, auf Ansichtskarten ohnehin geschafft, stark reduziert auf Witz, auf Originalität. Macht nichts. Denn offensichtlich kann ihm all das nichts anhaben, dem Surrealismus. Er war (und war es nicht) eine Bewegung, getragen vom Glauben an die Kraft künstlerischen Arbeitens, getragen von Künstler*innen, deren eindeutiges Ziel es war, die Zustände ihrer Gesellschaften zu kippen, und zwar radikal. Der Surrealismus legte in der Kunst vor, was auch sonst wo – im Alltag, in der Gesellschaft, in der Politik, im Denken – (so der Wunsch) funktionieren sollte: die große Freiheit, dem Möglichen das Unmögliche entgegenzusetzen und zu sehen, was dann so passierte. Stark politisch motiviert lagen seine Anfänge eventuell in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, eventuell in Paris, wo man Manifeste formulierte, der Sache ihren Namen gab, wo vor allem der Dichter, Schriftsteller, Theoretiker André Breton (1896-1966) übers surrealistische Geschehen wachte, seine (auch moralisierende) Urteile sprach, Künstler*innen mit in den Kreis holte, andere ausschloss (denn natürlich lief nicht alles glatt). Ob es den Surrealismus nicht schon zuvor gegeben hatte (so kann Dada zumindest als wichtiger Vorläufer gelten), ob er irgendwelche inhaltliche, geografische, zeitliche Grenzen kennt? Diese Fragen sind (eventuell) mit Nein zu beantworten (und ganz sicher war/ist der Surrealismus, auch wenn sich Breton da sehr dagegenstemmte, eine internationale Bewegung). Die außer Rand und Band geratenen Kunstschaffenden, die Vogelfreien, die Verfolgten, die kritisch Beäugten, die für verrückt Erklärten (die sich allesamt sehr viel mit Sigmund Freud, der Psychoanalyse, der Auflösung von Traum- und Wachzuständen beschäftigt haben), kurz, die Surrealist*innen prangerten jedenfalls sehr wissend und früh die europäische Kolonialpolitik an, stellten sich gegen den um sich greifenden Faschismus, griffen zu Waffen im Spanischen Bürgerkrieg, riefen zum Widerstand gegen die Nazis auf („Es lebe die Entartete Kunst“). Und das bei vollem Verstand. Betrachtet man die Zeit des Surrealismus, seine Hochzeit, seine Blüte, wirft man auch nur einen kurzen Blick auf sein Ansinnen, seine Methodik, ist sie sehr spürbar diese schmerzliche Lücke: Eine Tradition, die den Namen „Surrealismus“ wirklich verdiente …, in Deutschland gibt es sie nicht. Da ist, vor allem zwischen 1933 und 1945, nichts als dumpfe Leere, das Beharren auf gegenständliche Kunstfertigkeit, auf ideologische Folgsamkeit. Vielleicht ist John Heartfield da eine kleine Ausnahme (aber auch er floh ja 1933 sein Land).

Der Surrealismus fand in Frankreich von Anfang an auch kräftigen Niederschlag in der Literatur, oder besser gesagt, im Wort, in der „Dekonstruktion“ der herkömmlichen Sprache, der herkömmlichen Art zu schreiben. Auch hier wurde dem bloßen Zufall Platz eingeräumt, auch dem Unbewussten, auch dem spielerischen, assoziativen, auch dem „automatischen“ Schreiben. Beliebtes Spiel unter den Surrealist*innen (und von Breton sehr protegiert): das Schreibvergnügen CADAVRE EXQUIS. Der/die eine beginnt einen Satz, faltet das Papier, sodass das Geschriebene nicht mehr sichtbar ist, die nächste Person textet weiter, etc., etc.

Die anschauliche Beschreibung eines Jünglings – „Er ist schön wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ –, notiert in „Die Gesänge des Maldoror“ (1868) vom französischen Dichter Comte de Lautréamonts (1846 – 1870), ein Pseudonym für Isidore Lucien Ducasse, fiel zwar in eine Zeit, die vom Surrealismus noch nichts ahnte, die Surrealist*innen zelebrierten diesen Satz, hörten nicht auf, ihn zu zitieren.

Manches entstand im Kollektiv z. B. „Die magnetischen Felder“ (1920) von André Breton und Philippe Soupault. Die Poesie, das Gedicht standen hoch im Kurs, aber auch Romanartiges. Zu nennen sind weiter Autoren (Frauen betätigten sich als Surrealistinnen mehr in der Malerei wie der Fotografie) wie Louis Aragon, Paul Éluard, Georges Bataille … Bretons Titel „Nadja“ steht zentral. Die Protagonistin Nadja erscheint da dem Erzähler so fremd wie vertraut, kommt ihm und seinen Gedanken immer näher. Auch Louis Aragons „Der Pariser Bauer“ brach mit erzählerischen Konventionen. Nüchterne Beobachtungen wechseln sich ab mit Beschreibungen nächtlicher Begegnungen (auch einer mit Breton), dazwischen saltoschlagende Gedanken. Es kann und soll einem schwindlig werden, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Ausstellung bis 30. März 2025:

„Aber hier leben? Nein danke.“
Surrealismus + Antifaschismus

Städtische Galerie im Lenbachhaus – Kunstbau
Luisenstraße 33, 80333 München

Mehr Infomationen unter: www.lenbachhaus.de