Wie immer zur Weihnachtszeit empfehlen Redaktionsmitglieder der LiteraturSeiten München ihre Lieblingsbücher des Jahres.
Post
von Stefanie Bürgers
Eine Postkarte, die Lélia, die Mutter der französischen Autorin Anne Berest, 2003 aus dem Briefkasten fischt, zeigt eine Ansicht der Pariser Oper. Auf der Rückseite findet sich eine rätselhafte Aufzählung der Vornamen der im Holocaust ermordeten Eltern und Geschwister Lélias. Die Familie ist verstört und so wird die Karte zunächst zur Seite gelegt. Erst nach Jahren entlockt Anne ihrer Mutter, der einzigen in der Familie, die die Schoah überlebt hatte, Teile der schrecklichen Geschichte. Erst als Clara, Annes Tochter, in der Schule Antisemitismus ausgesetzt ist, beginnt sie ihre Recherche. Der autofiktionale Roman beschreibt das Leben von Anne Berests jüdisch-russischer Familie, die trotz der zunehmenden Judenverfolgung nicht flieht, sondern ungläubig den Anfeindungen an immer neuen Orten zu trotzen versucht. Anne lebt nicht traditionell-jüdisch, aber sie lebt mit den Traumata der Verstorbenen, als sei sie das Grab derer, die keine Grabstätte bekommen haben. Herauszufinden, wer die Karte geschrieben hat, ist das eine, doch für Anne geht es vor allem um die Frage, „was es heißt, jüdisch zu sein“.
Anne Berest:
„Die Postkarte“
Aus dem Französischen von M. Meßner und A. Thoma
Roman, 544 Seiten
berlin Verlag 2023
28,- Euro
Kunstvoll
Von Sevda Cakir
Michael Pfitzner, Diplomand der Münchner Akademie der Bildenden Künste, liefert in seinem grafischen Roman „Why“ die Antwort auf die Frage, die die Zivilisation schon immer beschäftigt hat: „Was macht der Mensch auf der Erde?“ In dieser Geschichte der Menschheit spielt eine Keksmaschine die zentrale Rolle. Die namenlose Heldin ist beauftragt, in der entfremdeten Welt dafür zu sorgen, dass die Keksproduktion weiterhin das Universum als Abfallprodukt hervorbringt. Ihre zeichnerische Gestalt trägt dazu bei, diese Welt zu hinterfragen: Nicht zuletzt wegen Ihrer Silhouette, die im Gegensatz zum bunt gestalteten Comic ohne Farbe bleibt. Der Autor macht es schwer, seine Abschlussarbeit einer eindeutigen Absicht zuzuordnen, er nutzt ein Remix aus vielen Bereichen der Stile, Zeiten und Ausdrucksformen. Bereits nach einem Tag im Leben der Agentin ahnt die Leserschaft, was der Alltag für Überraschungen bereithält – keine –, und hofft insgeheim: Lass die Weltbevölkerung diesen Irrsinn überleben!
Michael Pfitzner:
WHY
Mitarbeit Paul Valentin und Milan Bettermann
Graphic Novel
Eigenverlag, München 2023
Zu bestellen bei:
mail@michaelpfitzner.de
Unscheinbar
Von Markus Czeslik
Michael Ebert erzählt eine sehr nachdenklich stimmende Coming of Age-Story, die auf wundersame Weise schwerste Themen mit großer Leichtigkeit transportiert. Mischa gehört eher zu den unscheinbaren, unsichtbaren Kindern. Das ändert sich im Lauf der Geschichte, die einige Überraschungen parat hält. Dazu gehören auch Protagonist*innen, die tatsächlich „nicht von dieser Welt“ sind. Der 13-Jährige wünscht sich nichts sehnlicher, als noch mal mit seinem Vater zu sprechen, der sich das Leben genommen hat. Das bedeutet aber nichts, denn der Junge hört die Stimmen der Toten – durch einen Münzfernsprecher. Warum also nicht auch die von seinem Vater? Eberts Einfälle sind mal skurril, mal gruselig. Es dreht sich viel um Tod und Trauer, auch darum, dass durch die moderne Medizin mittlerweile „das Sterben ein Teil des Lebens“ geworden ist. Dass die Story nicht zu gefühlsduselig gerät, liegt auch an der ebenso lebenslustigen wie weisen Sola, mit der Mischa eine Art Bonnie & Clyde-Duo bildet. Zwei, die auf ihrer wilden Schatzsuche erkennen, dass sie sich viel näher sind, als sie gedacht haben.
Michael Ebert:
Nicht von dieser Welt
Roman, 240 Seiten
Penguin Verlag
München 2023
24 EUR
Bis mindestens 100
Von Katrin Diehl
In gebotener Kürze, aber umso inniger ein Hinweis auf ein Buch, das man sich mindestens auf jeden zweiten Gabentisch wünscht: „Verabredung mit Dichtern“. Autor: Michael Krüger. Der Zeitpunkt der Neuerscheinung ist kein Zufall. MK wurde am 9. Dezember 80. Eine Art Rückblick ist das also auf ein Büchermenschenleben, Erinnerung an Begegnungen mit großen Schreibenden. Bis 2013 hatte MK über Jahrzehnte den Hanser Verlag geführt, hatte die Zeitschrift „Akzente“ herausgegeben und München leuchtete mal wieder weiter, auch dank MKs feinstem Gespür für beste Literatur. Bis heute mischt er – und das erleichtert ungemein – mit im Literaturbetrieb, klug, spitzbübisch, so tiefsinnig wie lässig, auch mal streitbar. Die Reise durch die Literatenwelt geht entlang einzelner Schriftsteller. Das Kapitel „Meine israelischen Dichter“ soll in diesem Zusammenhang und aus gegebenem Anlass schnell sondererwähnt werden, auch weil es Wärme ausstrahlt, die man der Tage brauchen kann. Michael Krüger, selbst auch Dichter, Kritiker, Schreibender eben…, hat noch viel vor, und das ist die beste Nachricht.
Michael Krüger:
Verabredung mit Dichtern
Erinnerungen
und Begegnungen
447 Seiten, gebunden
Suhrkamp, Berlin 2023
30 Euro
Zukunft Hoffnung
Von Gabi Eichl
Was, wenn es doch ganz anders kommt? Wenn unsere Großstädte nicht zu unerträglichen Hitzekammern verkommen. Wenn wir doch die Kurve kriegen, ehe das Leben auf diesem schönen blauen Planeten für die Gattung Mensch – sagen wir es sehr vorsichtig – schwierig wird. Denken wir an den Klimawandel, denken wir an die Welt in einer schwarzen Nacht. Die Wissenschaft erlaubt uns kaum mehr anderes. Das Buch „Zukunftsbilder 2045: Eine Reise in die Welt von morgen“, herausgegeben von der Reinventing Society, einem 2020 gegründeten, eigenen Aussagen nach unabhängigen Think Tank, geht einen anderen Weg. Es versucht, Bilder in die Köpfe zu bringen, die Hoffnung machen. Und es sind vor allem die Bilder, die an diesem Buch so faszinieren. Etwa das Bild des neu gestalteten Münchner Marienplatzes im Jahr 2045. In der Bildunterschrift heißt es: „Die begrünte Stadt ahmt natürliche Stoffkreisläufe nach.“ Menschen stehen auf begrünten Dächern, aus Balkonen sind Mini-Wälder geworden.
St. Schaller, L. Zeddies, U. Scheub, S. Vollmar –
Reinventing Society (Hrsg.):
Zukunftsbilder 2045 – Eine Reise in die Welt von morgen
176 Seiten, Hardcover
Oekom, München 2023
33 Euro
Besondere Liebe
Von Ursula Sautmann
Es ist der fünfte Band einer Reihe, in der Richard Ford, ein amerikanischer Autor, das Leben des Frank Bascombe beleuchtet. Frank, selber bereits im vorgerückten Alter, erfährt, dass sein erwachsener Sohn nicht mehr lange zu leben hat. Der Sohn ist todkrank, und niemand kann das übersehen. In der Woche des Valentinstages begeben die beiden sich auf eine Reise in den Westen, zum Mount Rushmore mit seinen vier riesigen Präsidentenköpfen – DAS Symbol amerikanischer Größe und als solches nicht frei von Lächerlichkeit. Ähnlich ambivalent die Beziehung zwischen Vater und Sohn: Sie haben sich nie besonders nahegestanden, doch auf der Reise entwickelt sich eine Liebe, die getragen ist von Respekt und manchmal geradezu trotziger Komik. Irgendwie tröstlich. Und das Amerika Trumps wird ebenfalls unter die literarische Lupe genommen. Die vorherigen Bände über Frank Bascombe muss man zum Verständnis nicht gelesen haben, aber man wird neugierig.
Richard Ford:
Valentinstag
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Roman, 382 Seiten
Hanser Berlin, 2023
28 Euro