Zuerst einmal ist da die Neugier. Man will es genau wissen, umstellt das rätselhafte Etwas, damit es ja nicht entwischt, nähert sich ihm langsam, schnappt zu … und die Erkundung kann beginnen. Es ist ein stufenweiser Prozess, der sich hinter dem schlichten, althochdeutschen Wort „firstan“ verbirgt, ihn zu fassen sucht. Über die mittelhochdeutsche Zwischenstation des „verstan“ hat es sich zu unserem heutigen „verstehen“ entwickelt, ein Verb, das nach all den Jahren zur Verfaserung neigt. „Ich verstehe“ kann heißen, dass ich etwas deutlich gehört habe, dass meine Ohren also in Ordnung sind. Es kann zweitens ausdrücken, dass ich etwas kapiert habe. Drittens lässt sich mit „verstehen“ sagen, dass ich mit jemandem mitfühlen, mich in ihn hineindenken kann. „Ja. Versteh dich echt voll.“

Die „Putinversteher“ hierzulande bewegen sich irgendwo zwischen der Bedeutungssphäre eines vermeintlichen Kapierens und eines diffusen Mitgefühls. Das reine Hör-Verstehen spielt bei ihnen eventuell nicht so die Rolle, weil viele von ihnen wahrscheinlich gar kein Russisch können. Dafür können sie lesen. Und also lesen sie, was er sagt und denkt und weiß und macht, und all das wurde ja auch extra übersetzt. Was die Mehrzahl der Definitionen des Alltagswörtchens „verstehen“ unterschlagen, ist, dass es sich bei ihm um eine Illusion handelt. Wir verstehen nie (ganz). Ich bin einfach nicht du, und irgendwelche Störfaktoren gibt es immer. Wenn also x erklärt, er oder sie würde y verstehen, dann stimmt das nie (ganz). Dass x das dennoch behauptet, dass er oder sie den mehr oder weniger großen Restbestand an Unverständnis lässig bis fahrlässig unter den Tisch kehrt, lässt darauf schließen, dass da einfach bei x ein gewisser Wunsch besteht, y zu verstehen. Interessant. Das mit dem Wunsch. Und auch das macht „verstehen“ aus: Das Verlangen nach ihm, dem Verlangen also, hört nie auf.

Lion Feuchtwanger (1884-1958) wollte Stalin verstehen, was ihn, äußerst tragisch, zum „Stalinversteher“ gemacht hat. Sein Bericht „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde“ zeugt davon. Wir wissen das längst, möchten den Band am liebsten hinter all den anderen klugen wie weitsichtigen Feuchtwanger-Büchern in den Tiefen der Regale verschwinden lassen. Feuchtwanger, Deutscher, Jude, von Hitler bereits 1933 ins Exil gezwungen, wollte Stalin – allen Störmomenten, wie seiner Abhängigkeit von Propaganda-Übersetzern zum Trotz – verstehen. Und also verteidigte er die Moskauer Schauprozesse, die die Phase von Stalins „Großem Terror“ eingeleitet hatten. Beinahe verzweifelt hat Feuchtwanger nach einem Menschen, einer Gesellschaftsordnung gesucht, die sich Nazi-Deutschland entgegenstellen würden. Die westlichen Demokratien machten ja nichts, sahen diesem Hitler nur abwartend zu. Zwei Stunden exklu-
sive Stalinaudienz inklusive sehr viel
Hofierung taten das Ihre dazu. Zu ver-
stehen und nicht zu verstehen …

Und von Hebels „Kannitverstan“-Kalendergeschichte, die irgendwie beruhigen soll und es am Ende doch kein bisschen tut, wäre dann auch noch zu berichten.

dika