Von Laurie Ann Johnson
Aus dem Amerikanischen übertragen von Michael Berwanger
Und, was willst du in deiner Pause machen?“ Die Mutter des Mädchens blickte kaum von ihren Papieren auf, in die sie in der letzten Stunde – oder war es länger – Anmerkungen gekritzelt hatte. Sie arbeitete weiter, denn es sollte beiläufig klingen und ihr wildes und übersensibles Kind nicht erschrecken.
„Ich geh mit meinen Freunden – den Bäumen – spielen.“ Aha!
Diese von ihr unverhoffte Tochter hatte sie oft gleichzeitig überrascht, bekümmert und erfreut – in vielen Situationen während der letzten sechs Jahre, und das vom Anbeginn der Schwangerschaft. In Anlehnung an die biblische Geschichte mit Abrahams lang ersehntem, aber nicht mehr erwarteten Sohn, nannte sie ihre Neugeborene Sarah, wobei sie natürlich die Rollen vertauscht und alles umgekehrt genommen hatte.
Am nächsten Morgen dringt Vogelgezwitscher durch die geschlossenen Fenster und Jalousien und weckt Sarah früher als notwendig. Sie liegt still, lauscht gespannt und versucht aus den verwobenen Tonknäuel deutliche Rufe herauszuhören. Da! Ein Buchfink. Das war einer von den wenigen Gesängen, die sie sich hat merken können. Lang, mäandernd, scheinbar ins Nirgendwo treibend und plötzlich an einem Punkt endend, nur um fünf Sekunden später wieder loszulegen. Eine andere Stimme erregt ihre Aufmerksamkeit, ähnlich, aber für sie nicht erinnerlich. Eine Amsel? Wer sonst könnte gleichzeitig so einfach und großartig sein? Andere Geräusche mischen sich darunter – Autos, Kirchenglocken, Schritte vom Nachbarn über ihr.
Sie wäre gern ein Buchfink. Ein kleiner rostbrauner Vogel mit grauem Haupt, gestreiften Flügeln und einem kurzen, aber spitzen Schwanz. Ein Wesen, das – immer präsent – den ganzen Tag lauthals singt, egal, ob sein Gesang wahrgenommen wird, das in kratzigem dürren Laub nach Insekten pickt und zum nächstgelegenen Geäst aufflattert, um gleich von Neuem zu singen. Ein sehr vogelhafter Vogel. Bunt und ordinär, gewöhnlich und wild. Natürlich gibt es auch weibliche Finken, komplett grau und braun, aber sie weiß, das wäre nichts für sie.
Oder könnte sie wie der Nachbar sein, nicht direkt verstohlen, aber gesichtsloser als ein Geheimagent, der jeden Morgen rasch die Holzstiegen des Mietshauses hinabhuscht ohne die kleinen Vögel in den angrenzenden Büschen zu hören oder zu sehen, um dann … Aber sie hatte keine Ahnung vom Leben dieses, beziehungsweise der meisten anderen Erwachsenen. Sie würde es lieben laut zu sein und gleichzeitig unerkannt, aber sie will kein Erwachsenenleben leben voller Büros und Bedeutungslosigkeit.
„Ich bin wohl kaum ein Buchfink-Weibchen“, sinniert sie, aber dann fängt sie sich wieder, weil neue Geräusche aus der Umgebung hereindrängen. Mit geschlossenen Augen kann sie eine Krähe rufen hören, eine sanft gurrende Taube und ihre Mutter, die sich im Bett wälzt und von Schlaf zum Wachen gleitet. Sarah bleibt ruhig liegen, bemüht in ihrem Kopf alle Gedanken zu löschen, die sonst womöglich in den nächsten Raum entschlüpfen und ihre Mutter in ihrer Wachsamkeit aufscheuchen könnten. Diese Momente sind so kostbar, dass sie keine Einmischung ertragen hätte.
Sarahs Mutter war auf dem scheußlichen Spielplatz vor der Schule angekommen und wartete. Auch andere Eltern – meistens Frauen – standen peinlich berührt herum, schauten sich mit gezwungenem Lächeln an und ignorierten einander. Der größte Teil des Schulhofs war eine graue bis schwarze Trostlosigkeit mit ein paar bemüht bunt aufgemalten Kreisen, Tieren und Hüpfquadraten und nur in den Ecken von wenigen Bäumen aufgehübscht.
Die Kinder kamen heraus, rennend und trödelnd, ungeschickt und schlacksig, in schluffigen Jacken, bepackt mit kastenförmigen Schulranzen, und erlösten den Halbkreis der wartenden Eltern. In ungleichen Paaren machten sie sich auf zu einem Nachmittag voller Hausaufgaben, Musik- und Sportstunden und ähnlicher Freuden oder unvermeidlichem Gezänk und Türenschlagen.
Das Leerströmen der Schule hatte seinen eigenen Rhythmus und – wie gewöhnlich – war Sarah eines der letzten Kinder, die die Schule verließen. Ihre Mutter und zwei weitere Frauen standen verloren, als würden sie an der Gepäckausgabe dem zirkulierenden Band zusehen, ungewiss, ob ihr Koffer auf der Laderampe erscheinen würde oder ob sie sich zum Fundbüro bemühen müssten. Sie hatte gerade Sarah durch die doppelte Glastür auf der Treppe erspäht als die Frau, die neben ihr ausharrte, ihr Schweigen brach und sie wegen des nächsten Elternabends ansprach und sie fragte, ob sie einen Kuchen beisteuern könne oder bereit wäre an den Handarbeitstischen auszuhelfen.
Sarah schlich sich, da sie eine langweilige und vermutlich langwierige Unterhaltung befürchtete, ans andere Ende des Schulhofs, wo vier dünne Birken wuchsen. Ihre Freunde. Ihre Mutter registrierte sie aus dem Augenwinkel, nickte freundlich, war aber innerlich wütend auf sich selbst und auf dieses besorgte Elterndings, das inzwischen zu einem anderen, ebenso uninteressanten Thema gewechselt hatte; Hausaufgaben und Smartphones und Nachhilfe … Als glücklicherweise ein kleiner Junge aus dem Schulgebäude purzelte, der beide Glastüren zu einem dramatischen Auftritt nutze, konnte sie aus dieser Zwickmühle entkommen.
Sie beobachtete die beiden noch bis zum Parkplatz, dann machte sie seufzend kehrt, um Sarah Bescheid zu geben, dass sie endlich heimgehen könnten. Jener Sarah, die nicht da war. Jener Sarah, die geduldig gewartet hatte und nun verschwunden war. Angst und Gewissensbisse keimten in ihr auf, aber sie war nicht erstaunt. Sarahs Abwesenheit war eher ein Schuldspruch. Mutter zu sein war für sie nie leicht gewesen und sie hatte schon immer ein Donnerwetter erwartet, göttlich oder menschlich, das auf sie herabstürzen würde, um ihr ihre Tochter wegen der schlampigen Erziehung wegzunehmen. Wegen ungenügender Fürsorge. Dafür, dass sie die Einschränkungen und Fallstricke der Mutterschaft missachtete. Oder einfach, weil sie dachte, sie könne ein Kind alleine großziehen. Sie liebte ihr Kind, aber sie haderte mit ihrem Leben als Mutter.
Sie schaute zum bewachsenen Rand des Schulhofs hinüber. Kurz zuvor hatte sie noch Bewegungen bemerkt, aber jetzt war alles ruhig. Sparsam wiegten sich die weißen Stämme der Bäume in der milden Brise. Der ihr vertraute dunkelrote Schulranzen lag umgekippt vor den Wurzeln der fünften Birke, die Gurte zur Seite gerutscht. Der Wind frischte auf, packte Geäst und Blätter. Die schlanken, hellen Formen wippten, getrieben vom Wind. Der fünfte Baum schwankte, verrutschte zu einem Arm, einem Bein, einem stärkeren Korpus. Der Wind schob und griff. Vier Birken wankten gravitätisch, während die fünfte sich löste, auf einem zweiten Bein vorwärts stolperte, sich den Schulranzen schnappte und glücklich zu ihrer Mutter lief.
Die Autorin, geboren in Pittsbourgh, Pennsylvania (USA), lebt und arbeitet in Dachau.