[LiSe 06/14] Rezension: Auf Sand gebaut

Kunstgeschichte, Krimi und Kriegskulisse – das bietet das neue Buch von Christoph Poschenrieder. „Das Sandkorn“ ist der dritte Roman des in München lebenden Autors: Ein Kunsthistoriker auf den Spuren von Friedrich dem Staufer gerät zu Beginn des Ersten Weltkriegs in die Fänge der Berliner Kriminalpolizei. Die Spur hat das Opfer selbst gelegt: Es sind Sandkörner.
Jacob Tolmeyn, der Haupt-Protagonist des 400 Seiten starken Romans, und sein Mitarbeiter Beat Imboden sind Kunstfiguren. Sie haben freilich reale Vorbilder: Es sind die beiden Kunsthistoriker Arthur Haseloff und Martin Wackernagel, die zwischen 1904 und 1908 durch Süditalien reisten, um die Bauten aus der Zeit Friedrich II. (1194 bis 1250) zu dokumentieren. Ihr Auftraggeber war kein Geringerer als Kaiser Wilhelm II. Christoph Poschenrieder hat den wissenschaftlichen Haseloff-Nachlass in Kiel studiert und darin unter anderem 3500 Fotografien der beiden Kunsthistoriker entdeckt. Eine weitere Poschenrieder-Quelle sind die Lebenserinnerungen des Berliner Kriminalkommissars Hans von Tresckow, der bis zum Ersten Weltkrieg das Erpresserdezernat im Berliner Polizeipräsidium leitete.
Opfer einer Erpressung wird gleich zu Beginn des Romans der junge Kunsthistoriker Tolmeyn: Er ist homosexuell. Was das vor gut 100 Jahren in Berlin bedeutete, macht Poschenrieder an der Eulenberg-Affäre deutlich. In diese Affäre, einer der größten Skandale des deutschen Kaiserreichs, waren prominente Mitglieder des Kabinetts von Wilhelm II. verwickelt.

Tolmeyn flieht aus dem schwulenfeindlichen Berlin in das Preußisch Historische Institut nach Rom. Dessen Leiter schickt den jungen Wissenschaftler – zusammen mit dem Assistenten Imboden – auf Spurensuche nach Süditalien. Bevor die beiden nach Apulien aufbrechen, macht Tolmeyn noch eine „überbelichtete“ Blitz-Ausbildung zum Fotografen in Berlin – eines von vielen Kabinettstücken in dem Roman „Das Sandkorn“. Insgesamt drei Reisen führen die beiden Kunsthistoriker in den Süden, wobei sie bei der dritten von einer Frauenrechtlerin begleitet werden – eine seltsame (vielleicht allzu konstruierte) Konstellation, bei der es trotz aller wissenschaftlichen Akribie natürlich „menschelt“.
Leitmotiv des Romans ist der (Treib)Sand, den Tolmeyn auf all diesen Reisen, aber auch bei seiner Rückkehr in  Berlin und danach begleiten soll: So sammelt der Wissenschaftler von allen kunsthistorisch wichtigen Stätten Süditaliens Sand ein und verstaut ihn in kleinen Stoffsäckchen, um später Nachweise über (Bildhauer-)Werkstätten zu erbringen. Dieser Sand wird dem Kunsthistoriker zum Verhängnis: Nach dem kriegsbedingten Abbruch der Expedition streut er die Körner auf Berliner Straßen – schließlich soll das, so hat es ihm eine süditalienische Hexe prophezeit, das Böse abhalten. Genau das Gegenteil tritt ein: Die Polizei nimmt Tolmeyn fest. Der Leiter des Erpresserdezernats wittert eine Spur und erpresst nun seinerseits den in Berlin gestrandeten Wissenschaftler … das geniale Ende des Romans sei hier nicht verraten.

Christoph Poschenrieder (50) ist eine wunderbare Mixtur gelungen: differenzierte Roman-Figuren, eine gute Dosis Zeitgeschichte, spannende kunsthistorische Exkurse, animierende Reiseberichte, eine packende Handlung – und das alles stilistisch elegant, leicht und lehrreich, voll Humor und Finesse. Empfehlenswert zu lesen – und das nicht nur am Sandstrand!

Christoph Poschenrieder:
Das Sandkorn
München 2014, 400 Seiten
Diogenes 22,90 €

[LiSe 06/14] Heimweh nach draußen. Liebe und Literatur im Isartal

Eine Ausstellung der Münchner Monacensia im Hollerhaus Irschenhausen

Früh auf, alles gepackt und dann mit einem Freudenschrei weggefahren nach Schäftlarn“, bekannte Franziska zu Reventlow. SchriftstellerInnen und KünstlerInnen entdeckten das Isartal ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihnen gefiel die leicht hügelige Voralpenlandschaft und die Mentalität der sinnenfrohen, bodenständigen katholischen Einheimischen. Die gepflegten Bauernhöfe mit bunt leuchtenden Bauerngärten inmitten der fruchtbaren Wiesen inspirierten sie zu großer Literatur. Rainer Maria Rilke verbrachte den Sommer des Jahres 1897 gemeinsam mit seiner großen Liebe, der Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, in Wolfratshausen. Die Eindrücke seiner langen Spaziergänge hielt er in Briefen und Gedichten fest. Jahre später begegnete er in Irschenhausen erstmals der jungen Malerin Lou Albert-Lasard, mit der er von 1914 bis 1916 eine stürmische Affäre hatte. Franziska zu Reventlow suchte in der Natur Erholung vom Bohèmeleben in der Stadt und genoss ihre Freiheit bei hüllenlosen Sonnenbädern an der Isar. Der lungenkranke, englische Schriftsteller D.H. Lawrence erfreute sich mit seiner Geliebten Frieda von Richthofen an der frischen Landluft und war fasziniert von der Vitalität der Bauernburschen. In Hohenschäftlarn entspann sich 1920 zwischen Franz Hessel, seiner Frau Helen und dem gemeinsamen Freund Henri-Pierre Roché ein Dreiecksverhältnis, das mit François Truffauts Meisterwerk „Jules und Jim“ in die Filmgeschichte einging. Das Isartal darf also um 1900 mit Fug und Recht das Liebesnest der Weltliteratur genannt werden.
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Hollerhaus Irschenhausen, Neufahrner Weg 3, 82057 Irschenhausen.
Eröffnung der Ausstellung: 27.6. 19 Uhr. Dauer: 28.6.-14.9.2014. Sa, So 13-18 Uhr. www.hollerhaus-irschenhausen.de

[LiSe 06/14] „Mit 80 Karten um die Welt – Kartografische Fundstücke der Kinder- und Jugendliteratur aus drei Jahrhunderten“

Im Frühling heißt es wieder: „Raus und die Welt entdecken!“ Darum geht es in unserer neuen Ausstellung, für die zahlreiche Fundstücke aus den Beständen der Internationalen Jugendbibliothek zusammengetragen wurden. Sie zeigen Kontinente, Länder, Meere, Landschaften, Gebäude oder Reiserouten – als großes Ganzes oder in kleinen Ausschnitten. Sie dokumentieren Geschichte und wissenschaftliche Kenntnisse, sind Ausdruck von Traditionen und Machtverhältnissen. Dabei sind sie aber niemals nur sachliche, scheinbar neutrale Orientierungshilfen oder Abbilder von realen oder fiktiven Räumen, sondern immer auch Spiegel dessen, wie Menschen sich die Welt vorstellen, wahrnehmen und ordnen, was ihnen wichtig erscheint oder auch weniger.

Internationale Jugendbibliothek, Schloss Blutenburg, Wehrgang-Galerie. 23.5.-21.9.2014. Mo-Fr 10-16 Uhr, Sa/So 14-17 Uhr. Eintritt frei. www.ijb.de

[LiSe 06/14] Kurzgeschichte: Xie Xie

Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht.

Nach einer Aspirin und einer Stunde gekrümmt auf dem Sofa wählte ich Berts Nummer. Kein Empfang. Das kannte ich schon. Blieb nur Greta, meine Assistentin, aber Greta kam gerade heute eben nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.

Als hätte er das eingesehen, gab mein Leib plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ich sah hinunter auf die Siebenmillionen-Niemandsstadt nahe der Grenze zur Mongolei. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem die Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne.

Das am Freitag mit Greta wäre mir vor ein paar Wochen noch nicht passiert. Sie hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das W mit dem M vertauscht war. „Diese unendliche chinesische Blödheit!“, brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich, und Greta stand auf, die gemeinte Chinesin, die sich ihren seltsamen Vornamen aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten selbst verliehen hatte. Das war so üblich.

„Oh, vergessen“, sagte sie und trippelte auf ihren zehn Zentimeter Lackpumps um den Schreibtisch herum. Sie war besonders bemüht gewesen in den letzten Tagen, weil es um die Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten gingen zur Hochzeit und hielten Lobreden.

„Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen“, sagte ich. „Und merk dir das endlich mit dem Logo, Greta, hörst du?“

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal.

Meine Assistentin ging jedoch dieses eine Mal nicht ran. Mailbox.

Ich wartete. In der Küche über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.

Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im 39. Stock mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.

Zweiter Versuch: „Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.“

Im blauen Krankenhaus tummelten sich die Menschen, alle wollten dran kommen, eine alte Frau schubste mich, ich schubste zurück. Alle wollten drankommen, sie hielten Geldscheine hoch. Vorne beim Tresen zeigte ich mein Handy, auf dem Display die Übersetzung meiner deutschen Eingaben.

„Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?“, fragte ich.

Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben.

Ein Wartezimmer, Frauen, ich wählte Bert an, aber eine Schwester deutete erbost auf das Zeichen an der Wand: Handys verboten.

Dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Ich brauchte eine Toilette, unbedingt, suchte den Gang entlang, aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe.

Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da, sie hockte schon. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch. Aus mir heraus kam ein hellroter Strahl. Die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger.

Was sollte ich tun? Unten in Wellen die Krämpfe, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich ein Etwas aus mir herausschwämmen, ein Klümpchen, mit einem Schwall, es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiter floss, immer weiter.

Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne, Entsetzen im Gesicht und jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig, und ich flehte sie an: “Holen Sie Hilfe!“

Aber sie blieb da, zog mich hoch und presste mir ein Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand, lächelte und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch.

In dem Moment wusste ich es. Dr. Mayers hatte gesagt, ich könne nicht schwanger werden. Ein Irrtum. Jetzt wusste ich auch, was die Frau mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, und ich sagte: „Xie Xie.“ Danke.

Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich knickte ein.

Die Frau rannte hinaus, die Schwester kam und zerrte mich auf einen Rollstuhl, schob mich in einen Saal mit etlichen Gynäkologenstühlen nebeneinander, auf allen Frauen wartend, auf einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir.

Neben mir klopfte ein Gerät: Die Herztöne eines Föten. Während ich das hörte, wurde ich ruhiger. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken.Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange. Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.

„Chefin!“, rief sie, „Chefin!“ und drückte mich fest und sagte: „Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben.“

Ich schluchzte immer lauter. „Greta, es tut mir so leid.“

Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. „Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester.“

Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter.

„Ich werde auf deiner Hochzeit…“

„Schluss damit. Erst Auskratzung, dann Hochzeit.“

Jetzt lächelte ich tatsächlich.

„Ich war schwanger,“ sagte ich.

Greta biss sich auf die Lippe, streichelte meinen Fuß in der blutigen Socke, beugte sich dann über mich und flüsterte: „Einmal schwanger, wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben.“

Sie kicherte. Und hielt meine Hand.

Heike Duken

(Stark gekürzte Version der Sieger – Geschichte des Haidhauser Werkstattpreises 2013)

[LiSe 06/14] Lyrische Kostprobe

Zutaten:
Final Destination Club, Frankfurt am Main, Cocktailbar, lange Happy Hour

Küss mir Sour. meine ab-
Gebrannten Whiskeylippen.
Sie sind spröde, wie Ruinen
Spröde. nächtelang entgangen
Sie platzen auf, als wäre Fieber
Drunter. Vorsichtig greif ich die
Strohhalme
Deiner Hand – sie halten mich wirklich
Von sich aus. woher zeigen deine
Mundwinkel so angetrunken?
Der Kompass der Witze
Ist erschöpft. ohne uns.
Von dir. das Streicheln meines Rückens
Ist ein Code. die Seiten stechen
Minenhaft, wenn deine Finger-
Kuppen auf mir eruptieren. bist du
die Anlaufstelle meiner Zungen-
Sorgen? mit uns beiden geraten
Die Barhocker ins Straucheln.
Schmeckst du Sour oder geflockt
Meine Angst? warte.
So marode kann ich nicht sein.
Ich brauche noch
Bis du dein Strumpfband bleckst.

Martin Piekar
Der Autor war Finalist des Lyrikpreises München 2013