Von Tania Rupel Tera

  • Was noch? Denk nach, sicher gibt es andere Varianten.
  • Hm, vielleicht ist er einfach ein Türspion am unendlichen Himmelstor. Was sagst du?
  • Gut, interessant.
  • Man könnte das Bild selbstverständlich weiterentwickeln. Was gibt es hinter dieser Tür und so weiter.
  • Ja, was noch?

  • Ja, was? Der Mond ist ein Auge … von jemandem.
  • Na gut, das war jetzt zu erwarten, zuerst Türspion, dann Auge. Denk neu, denk anders!
  • Für dich ist es leicht, nur abzuverlangen. So schnell fällt mir nichts ein.
  • Du brauchst keine Geschichten über einen goldenen Apfel zu erfinden, das haben vor dir schon andere getan.
  • Na gut, dann ist er ein Goldball von Maradona oder von einem der bekanntesten Fußballer der Welt – dorthin geknallt. Na, wie findest du es?
  • Tja.
  • Okay, jetzt ernst. Er ist der Goldzahn eines Monsters, als Halbmond natürlich. Nein, warte. Eher als Vollmond ist er eine Goldmünze, welche ein neuer, moderner Hamlet in die Luft warf: Sein oder Nichtsein, Zahl oder Kopf. Die Münze kam nicht zurück, sie blieb oben und der junge Mann musste selbst herausfinden, was er mit seinem Leben anfangen soll.
  • Gefällt mir besser. Das ist es! Eine Geschichte zu erzählen, etwas hinter dem Bild zu entdecken.
  • Der Mond ist eine goldene Uhr, weißt du. Ihre Zeit ist anders. Vermutlich ist das nicht schon bekannt. Aber wenn ich Hunger habe, ist er ein Spiegelei. Nee, er ist meine unendliche Inspiration. Eine runde Sache, die oft dennoch nicht perfekt ist. Der Vollmond ist vielleicht ein Gedicht – ein magisches, vollkommenes Gedicht. Einfach ein Traum, ja, klischeehaft, trotzdem wahr. Nein, warte, er ist der Knopf des kleinen Prinzen von Exupéry. Der Prinz hatte eine Weste oder eine Strickjacke an und als er sich um die Rose kümmerte, riss der Knopf ab und rollte weg. Der Prinz suchte ihn auf seinem winzigen Planeten … Oder noch besser: Der Mond ist mein letzter Gedanke, mein Gebet, bevor ich einschlafe. Du schweigst. Ich bin doch deine kleine Prinzessin, nicht wahr? Dann ist er auch die goldene Träne von der Prinzessin, die gegen ihren Vater und die Gesellschaft rebellierte. Nein, eher die goldene Erbse. So kommt die neue Fassung des bekannten Märchens.
  • Du wechselst immer wieder vom Konkreten zum Abstrakten. Mir wäre es lieber, du strengst dich noch an und bist wirklich innovativ, originell!
  • Ok, das ist die Glut der Gotteszigarette. Weil Gott ein Raucher ist, der immer wieder versucht, sich von der Sucht zu befreien. Viele Tage im Monat kämpft er dagegen, ist zuversichtlich. Dann kommt doch der Tag, eigentlich die Nacht, in welcher er schwach wird, aufgibt, und sich wieder eine Zigarette anzündet. Also hier kommt die Geschichte vom Gotteslaster, von Niederlage und co. Gott – dieser Sünder!
  • Ja, sind schon einige gute Ideen dabei gewesen. Siehst du, am Anfang dachtest du, es gibt nur wenige, ziemlich banale Möglichkeiten. Aber langsam …
  • Du hast recht. Entschuldige, jetzt kann ich plötzlich nicht aufhören. Er könnte auch der Lauf einer goldenen Pistole sein. Und ich werde dir so eine spannende Geschichte über sie erzählen, du hast keine Ahnung. Noch besser, Papa – der Vollmond ist eine Kugel von einem verliebten Mann. Er wollte ohne die Eine nicht mehr leben. Die Kugel ging durch sein Herz und blieb für immer am Himmel – im Herz der Nacht, um uns an die Liebe zu erinnern.
  • Siehst du, Tochter, das wollte ich dir zeigen. Mach so weiter. Der Mond ist wie das Glück. Er rundet sich langsam auf, kurz bleibt er so, wie ein Ideal. Danach wird er wieder unvollkommen. Er ist wie das Leben selbst … oder so ähnlich. Man muss sich doch Mühe geben, haha, und ich bin schon zu alt dafür.

Daran erinnere ich mich, während mein Vater seinen Mund öffnet und wartet, dass ich ihn mit Brei füttere. Er war damals überhaupt nicht alt, denke ich. Nun ist er achtzig geworden. Ich besuche ihn im Altersheim. Wir sitzen einander schweigend gegenüber. Durch meinen Kopf geht ein fast endloses Filmband. Was in seinem Kopf vorgeht, kann ich nicht sagen.