Schlichtweg groß
Von Michael Berwanger

Einst ein umstrittener Bestseller, jetzt schlichtweg große Literatur: Der Wagenbach Verlag hat Elsa Morantes Werk „La Storia“ in neuer Übersetzung noch mal herausgegeben. Es ist die Geschichte der verwitweten Lehrerin Ida, die in den Jahren 1941 bis 1947 bis zur Erschöpfung in Rom zwischen den Armenvierteln San Lorenzo und Testaccio hin- und her hetzt. Sie müht sich ab, ihre beiden Söhne durchzubringen. Nino, der ältere Sohn und präpotente Schwarzhemdträger, will schnellstmöglich das Lyzeum verlassen und in den Krieg ziehen – später findet er sich bei den Partisanen wieder. Der Kleine, Useppe – gezeugt bei einer Vergewaltigung durch einen jungen deutschen Wehrmachtsoldaten –, stets heiter und neugierig, verbringt seine Tage allein in der Wohnung, oft nur in Gesellschaft des Hundes Blitz. Inmitten von Bombenangriffen, Hunger und Deportationen wächst Idas Angst, ihre jüdischen Vorfahren könnten der Familie zum Verhängnis werden. Mit unendlicher Zuneigung für ihre Figuren verknüpft Elsa Morante die Geschichte einer Welt in Flammen mit dem Schicksal einer Frau und ihrer Kinder.

Elsa Morante: La Storia
Roman
Übersetzt von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
Gebunden, 768 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2024
38 Euro

Zwei Quadratmeter
Von Stefanie Bürgers

Wolf Haas steht für Krimis mit krassen Szenen, doch mit „Eigentum“ gelingt ihm eine berührende Würdigung seiner sterbenden Mutter Marianne. Drei Tage verbringt er am Bett der Sterbenden, die „ein sehr dünnes Vogerl geworden ist“. Er taucht Erinnerungen hoch und lässt ihre liebenswerten, wie anstrengenden Seiten aufblitzen. Der Sohn solle den Ahnen mitteilen, dass es ihr gute gehe, so ihr Wunsch. Es gehe auch ihnen gut, berichtet der Sohn, nur der Vater habe Schnupfen. Damit setzt er bei der Mutter eine Litanei in Gang, die Vorwurf und Mitleid in einem Atemzug ausdrückt. Humorvoll zerpflückt er die strapaziöse Suada in einer philosophischen Analyse. Das Leben der Mutter war hart. Als eines von 10 Kindern wuchs sie bei anderen Bauern als Dienstmagd auf. Nie sei es ihr gut ergangen, ließ die Mutter jeden hören. „Nur Sorgen, Sorgen, Sorgen“, repetiert die „Meisterin der rhetorischen Trias“, so Haas sarkastisch. Sie will wieder Grund und Boden, nachdem ihr Großvater es verloren hat. Schlau ist sie, geht auf die Schule, in die Schweiz, lernt Sprachen. Doch ihre Sparsamkeit kommt gegen die Teuerung nicht an. Am Ende gehören ihr nur zwei Quadratmeter – ihr Grab.

Wolf Haas: Eigentum
Roman
Hardcover, 160 Seiten
Hanser Verlag München 2023
22 Euro

Souvenirgehabe
Von Sevda Cakir

In ihrem deutschen Debüt „Trophäe“ entführt Gaea Schoeters die Lesenden in ein Großwildjagd-Paradies nach Afrika. Hier will der Amerikaner Hunter White seinen Traum von den Big Five erfüllen. Er jagt von Kindesbeinen an und die Lizenz für die letzte Trophäe bekommt er mühelos durch gute Kontakte. Doch dann bietet sich ihm die Chance zu einem finsteren Abenteuer. Es nennt sich „Big Six“. Hunter lässt sich drauf ein: mit fatalen Konsequenzen.

Mit dieser Parabel gelingt es der Autorin, eine Fiktion zu erschaffen, die es der Leserschaft unmöglich macht, sich dieser bizarr und zynisch ausgedachten Logik zu entziehen. Dabei nutzt die flämische Schriftstellerin bewusst die Sprache des „White Gaze“ (Weißer Blick). Auf diese Weise will Gaea Schoeters „ihre Kolonialgeschichte und die daraus resultierenden heutigen postkolonialen Auswirkungen thematisieren“.

„Trophäe“ wurde 2022 für den Europäischen Buchpreis nominiert.

Gaea Schoeters: Trophäe
Roman
Übersetzt von Lisa Mensing
Gebunden, 256 Seiten
Paul Zsolnay Verlag Wien 2024
24 Euro

Helfende Hand
Von Markus Czeslik

Mitten auf dem Meer: Marie Darrieussecq lässt zwei Menschen aus komplett verschiedenen Welten in einem Koordinatensystem mit unendlich vielen Variablen aufeinanderprallen. Größer könnten die Gegensätze nicht sein: hier das Kreuzfahrtschiff mit all seinen Annehmlichkeiten, auf dem sich Rose wie in einer Blase bewegt – dort das Flüchtlingsboot, der Eisberg, der Roses Leben rammt und sie zu nicht immer nachvollziehbaren Entscheidungen bewegt. Fortan begleitet der junge Flüchtling Younès die Psychologin in all ihren Gedanken. Ein ambivalentes Verhältnis entwickelt sich. Rose bleibt innerlich zerrissen – was hat sie mit diesem fremden Leben zu schaffen? Aber etwas treibt sie an, eine Verbindung, die sie auch bei ihren jugendlichen Patienten spürt, denen sie in der Therapie ihre helfende Hand reicht. Die Story fließt weitgehend ruhig dahin, bis die nächste Welle heranbraust und Roses Leben eine neue Wendung gibt. Wie ein Dominostein nach dem anderen fallen all ihre bisherigen Gewissheiten. Eine starke Stimme aus Frankreich, genau zur richtigen Zeit.

Marie Darrieussecq: Das Meer von unten
Roman
Übersetzt von Patricia Klobusiczky
Gebunden, 186 Seiten
Secession Verlag 2024
25 Euro

B(l)izzar(d)
Von Katrin Diehl

Steigt ins Auto und macht euch davon, ihr ewigen Ehefrauen, Mütter! Weil es dafür fast immer Gründe gibt, und die nicht weniger werden, nur weil wir die 40, 50, 60 überschritten haben. Wir sind ja weiterhin mit Aufräumen beschäftigt, Wegräumen, Hinterherräumen, Beiseiteschieben von Rollenbildern, von Ungerechtigkeiten, von Ignoranz, von Starrsinn. Macht euch davon wie die „mittelmäßig berühmte Künstlerin“ mitten in ihrem Midlife. Sie tut’s, lässt Mann, Kind … sitzen, und dann sehen wir mal, was alles stillsteht. In „Auf allen vieren“ spielt die großartige Allroundkünstlerin Miranda July die Möglichkeit einer Frau jenseits der Jugend durch. Die hat einen Roadtrip LA – NY geplant, biegt aber dann, der Teufel wird sie geritten haben, schon in der nächsten halben Stunde falsch/richtig ab, bleibt hängen in einem runtergekommenen Motel, holt sich den jungen Mann vom Car-Sharing nach oben. Was für ein LOL, was für ein Ventil, was für eine Illusion mit sprühenden Fünkchen.

Miranda July: Auf allen vieren
Roman
Übersetzt von Stefanie Jacobs
Gebunden, 400 Seiten
Kiepenheuer & Witsch Köln 2024
25 Euro

Moderne Zeiten
Von Ursula Sautmann

Ein Gesellschaftsroman, der als Liebesroman daherkommt: „Wellness“ von Nathan Hill. Jack und Elizabeth schlingern durch ihre Ehe und laufen dabei in so ziemlich alle Fallen, die die Neuzeit so aufstellt: Immobilienkrise, Kunst- und Wellnessmarkt, Swingerparties, die Tücken von Social Media und ein Kind, das schwierig ist und hilflos macht. Viele Themen der Neuzeit werden gestreift, und es wird auf 729 Seiten nie langweilig. Seien es nun die Kunstwerke Jacks, die nichts zeigen, oder das Marshmallow-Experiment, das die Selbstkontrolle von Kindern messen soll: Nathan Hill ist ein Schmöker gelungen, der dem Wahnsinn mit Witz begegnet und der die Leserinnen und Leser am Ende gelassen und abgeklärt und um einige Einsichten reicher zurücklässt; leicht zu lesen, spannend, und gut recherchiert. Nathan Hill war bereits mit seinem Debüt „Geister“ von 2016 ein internationaler Bestseller gelungen.

Nathan Hill: Wellness
Roman
Übersetzt von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner
Hardcover, 729 Seiten
Piper Verlag München 2024
28 Euro